Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Feldpredigten des Feld-Divisionspfarrers Christian Eisenberg aus Marburg, 1914-1915

Abschnitt 6: Predigt I / 6 zu Jesajas 40. 26 ff.


Hebet Euere Augen in die Höhe und sehet! Wer hat solche Dinge geschaffen und führet ihr Heer bei der Zahl heraus? Er ruft sie alle mit Namen; sein Vermögen und seine Kraft ist so groß, daß es nicht an einem fehlen kann. Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug den Unvermögenden. Die Knaben werden müde und matt, und die Jünglinge fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler; daß sie laufen und nicht matt werden; daß sie wandeln und nicht müde werden. Jesajas 40. 26 ff.


Ihr lieben Kameraden!

Wir stehen in schweren Tagen1. Kein Ernsthafter unter uns hat den Krieg, als er ausbrach, leicht genommen. Mögen unsere jungen Regimenter in heller Begeisterung, singend und jubelnd, hinausgezogen sein; wir, die gereiften Männer der Landwehr, wir haben es von Anfang an gewußt, daß es heiße, sauere Arbeit gibt. Eine Welt von Feinden gegen sich zu haben, das fordert die Einsetzung aller Kraft. Dazu haben auch die Feinde — das hat der bisherige Verlauf des Krieges gelehrt — seit 1870 vieles gelernt, und wir haben es schon oft merken können, daß wir es mit beachtenswerten Gegnern zu tun haben. Das alles haben wir gewußt, und an manchem Tag schon hat die Last des Krieges schwer auf uns gelegen. Aber so schwer, Kameraden, wie in den letzten 8 Tagen war es noch nie. Das war schwer dort vorn in den Schützengräben; das war die Hölle! Unter dem grauenhaften Hagel schwerer Granaten, wie ihn in früheren Kriegen stark ausgebaute [S. 23] Festungen kaum zu ertragen hatten, sind Euch Euere Erdhöhlen dort zu Stätten des Grauens geworden. Es gab keine Ruhe, weder bei Tag, noch bei Nacht, da aus Abend und Morgen nur immer wieder neue Schlachten wurden. Nun haben sich einige Tage der Ruhe und des Atemschöpfens für Euch ermöglichen lassen, ehe Ihr wieder hinaus müßt; eine Frist der Sammlung, da Leib und Seele aufatmen dürfen, ehe die eiserne Pflicht Luch aufs neue ruft.

Da klingt es Euch hier an heiliger Stätte entgegen: „Hebet Euere Augen in die Höhe", wir fassen das Wort zunächst in seinem einfachsten Sinn. Dann heißt es, in unser Soldaten-Deutsch übertragen: „Die Köpfe in die Höhe, Kameraden"! Draußen im Schützengraben, eingewühlt in die Erde, mühsam Deckung suchend gegen den sausenden Eisenhagel, überschüttet von der emporgewirbelten Erde und eingehüllt von erstickendem Rauch, da verliert der einzelne den Blick fürs Ganze und denkt: wir quälen uns mühsam hier ab und sehen keinen Erfolg; so mag es überall gehen! Demgegenüber gilt es: Die Köpfe hoch, Kameraden! Blickt aus das Ganze! Stärkt Euch an den herrlichen Erfolgen, die Gott uns auf unseren weiten Kriegsschauplätzen schenkt. Auch Ihr dürft Euch getrost zu denen rechnen, die treulich das Ihre dazu beigetragen haben. Was unsere 5. Landwehr-Division in diesen schweren Tagen gegen eine vielfache Übermacht leistet, darf sich sehen lassen vor der ganzen Welt. Wenn es uns bisher gelungen ist, die mit allen Mitteln unternommenen Durchbruchsversuche des Feindes siegreich abzuschlagen, so dürfen wir mit stolzer Freude auf diese Arbeit zurückblicken, und Ihr dürft des Dankes des deutschen Vaterlandes gewiß sein, Ihr lieben, braven Landwehr-Kameraden! — Die Köpfe in die Höhe! Es ist nicht tapfere deutsche Art, zu stöhnen und zu jammern, wenn es hart her geht, und wenn die Schrecken der modernen Schlacht über einen dahinfegen. Tapfere, deutsche Art ist es vielmehr, Schweres und Bitteres, das getragen werden muß, [S. 24] still und stark auf sich zu nehmen und dahinter schon das kommende Licht und den werdenden Segen zu sehen.

Und doch — menschlicher Zuspruch allein will jetzt hier bei uns nicht ausreichen; nicht wahr, Kameraden? Denn es gibt auch ein Ende der Kraft und eine Grenze des Könnens. Wenn die Granaten gar nicht aufhören, wenn rechts und links die Kameraden fallen und ein Unterstand nach dem andern in Trümmer geht, wenn das Ganze Tage und Nächte umfaßt, ohne daß an Ruhe und Schlaf zu denken ist, dann will alle Begeisterung und aller gute Wille allein nicht ausreichen. Dann erfahren wir die Wahrheit des Liedes: „Mit unserer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren". Aber dann dürfen wir grade auf das hören, was unser Text uns zu sagen hat: Hebet Euere Augen in die Höhe; blicket hin auf den allmächtigen, lebendigen Gott, dessen Vermögen und starke Kraft so groß ist, daß es denen, die sich zu ihm halten, an nichts fehlen darf. In seinem Namen haben wir den ganzen Krieg begonnen; Er wird uns gnädig hindurchhelfen und uns auch in einzelnen schweren Abschnitten nicht im Stich lassen.

Wie groß, Kameraden, ist diese Gottesverheißung von der neuen Kraft, die er Müden und Unvermögenden schenken will. So viele, die sich daran hielten, haben es schon buchstäblich erfahren dürfen; haben es erlebt, daß ihnen durch Gebet und gläubigen Ausblick wunderbare Kraft gegeben wurde, so daß sie, wie von Adlers Flügeln getragen, über Schwierigkeiten hinwegkamen, die ihnen vorher unüberwindlich erschienen. Die Last dieser Kriegsnot soll uns nicht erdrücken; weder stumpf noch bitter noch mutlos machen, sondern demütig, rein und stark. Sie soll uns glauben und beten lehren und zu Gott führen. So viele Kameraden haben es schon bezeugt, daß sie durch diesen Krieg ihrem Gott wieder näher gekommen sind, und daß der Heiland ihrer hier draußen der unentbehrlichste Freund und Begleiter geworden ist, der ihnen hilft, alles Schwere zu überwinden. Ihm wollen auch wir uns [S. 25] heute aufs neue in die Arme werfen, Kameraden, in schlichtem, einfältigem Vertrauen: Bei Dir wollen wir bleiben, der Du unserer Väter Gott warst und unser Vater bist durch Jesum Christum; der Du Dich schon so treulich in diesem Krieg zu unserem Volk und Heer bekannt hast und uns helfen wirst, daß wir mit Ehren bestehen können. - Daß uns Blut und Opfer dabei nicht erspart werden können, wissen wir, und mancher sauere Tritt ist nötig. Bis Christen lernen wir immer wieder von unserem Meister, daß es durch Kampf zum Sieg geht und durch Kreuz zur Krone, und daß wir bereit sein müssen, wie er bereit war, auch zum bitteren Tod. In seinem Namen wollen wir weiter gehen.

Amen.


  1. Der Gottesdienst fiel in die Zeit der schweren, 12 Tage und Nächte umfassenden Kämpfe, anläßlich der französischen Durchbruchsversuche zwischen Maas und Mosel. (Anm. Eisenberg).

Persons: Eisenberg, Christian
Keywords: Feldpredigten · Feldgeistliche · Feld-Divisionspfarrer · Evangelische Kirche · Landwehr · Deutsch-Französischer Krieg 1870-1871 · Schützengräben · Granaten · 5. Landwehr-Division
Recommended Citation: „Feldpredigten des Feld-Divisionspfarrers Christian Eisenberg aus Marburg, 1914-1915, Abschnitt 6: Predigt I / 6 zu Jesajas 40. 26 ff.“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/76-6> (aufgerufen am 26.04.2024)