Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Feldpredigten des Feld-Divisionspfarrers Christian Eisenberg aus Marburg, 1914-1915

Abschnitt 1: Predigt I / 1 zu Römer 14, 7-8 (Totensonntag)


Unser keiner lebt ihm selber, und keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Römer 14, 7—8.


Liebe Kameraden!

Es ist Toten-Sonntag heute1. Daheim wandern viele Tausende zu den Friedhöfen, um liebe Gräber zu schmücken, um an ihnen zu weinen und zu sinnen. Wir hier draußen an der Front habens nicht weit zu den Gräbern. Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen. Manches Kameraden-Grab liegt um uns her; solche, in denen einzelne ruhen, die wir kannten; und weite Massengräber, in denen Freund und Feind, bekannte und Unbekannte einträchtig neben einander schlafen. An sie gedenken wir heute mehr, denn an andern Tagen.

Dürfen wir als Soldaten solchen Gedanken Raum geben? Machen sie nicht weich und untüchtig? Sollten sie deshalb nicht lieber fern gehalten werden? Im Gegenteil, Kamerad! Laß den Gedanken an den Tod und an die Toten nur recht an Dich herankommen und verarbeite ihn innerlich als Mann und als Christ; dann wird er Dir zum Segen. Unser Textwort will uns dazu anleiten, indem es die zwei Großmächte, um die sich schließlich alles dreht, das Leben und das Sterben, aufs engste mit einander verknüpft; uns zeigt, wie die beiden nur scheinbar einander feind sind, in Wirklichkeit aber beide Diener eines und desselben Herrn, des Herrn, nach dem wir als Christen uns nennen, weder mit dem Leben, noch mit dem Sterben sollen wir auf uns selbst [S. 2] gestellt sein, sondern mit beidem unserem Herrn und Heiland Jesus Christus angehören.

Unser keiner lebt ihm selber. Das ist vielen erst durch diesen Krieg recht deutlich geworden, vorher war ihre Seele vom Denken an das eigene Ich ausgefüllt; nun spüren sie, wie klein das ist, und wie es so unendlich viel Größeres giebt. Vorher sah ein jeglicher auf seinen Weg; nun fühlen wir uns als Glieder des Ganzen und sind mit Freuden bereit, Gut und Mut, Leben und Gesundheit für das bedrohte teuere Vaterland dahin zu geben. Es ist etwas herrliches, Kameraden, daß diese schlichte und doch so große Wahrheit in Millionen von Deutschen wieder lebendig geworden ist: unser keiner lebt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn, wer ist mit dem „Herrn" gemeint? Unser oberster Kriegsherr, unser Kaiser und König? Wir dürfen an ihn denken, wenn wir fragen, wem unser Soldaten-Leben gehört. Ihm haben wir einst im Fahneneid Treue gelobt; er hat uns beim Ausbruch dieses Kriegs unter die Waffen gerufen; und weil wir von ihm, unserem frommen Kaiser, wissen, wie tief er dabei seine große Verantwortung vor dem lebendigen Gott empfand, darum folgen wir nun voll vertrauen und Hingabe seinen Befehlen. Unser Leben gehört dem Vaterland und dem, der es uns verkörpert: unserem Kaiserlichen Herrn.

Unser Text aber will mit seinem Wort vom „Herrn" unsere Gedanken doch noch höher emporheben, über unseren irdischen Oberherrn hinaus, hinauf zu dem, der ein König ist über alle Könige und ein Herr über alle Menschen; empor zu dem lebendigen Gott und zu dem, den er gesandt hat: Jesum Christum. Leben wir, so leben wir diesem Herrn. Ihm gehören wir mit Leib und Seele; Ihm sind wir verantwortlich mit unserem Tun und Lassen; unter seinen heiligen Augen stehen wir mit unserem ganzen Feld-Leben, im Schützengraben wie im Quartier; in den heißen Stunden des Kampfes, wie in den stillen Stunden der Ruhe. Dieses [S. 3] Bewußtsein bewahre uns vor allem, was nicht recht ist, und mache uns willig zu allem, darauf sein Wohlgefallen ruhen mag. Das möge unser Ziel bleiben: vor Ihm, der uns teuer erkauft hat, erworben und gewonnen, möchten wir recht erfunden werden. Leben wir, so leben wir diesem unserem Herrn, der ein Herr ist über alle und über alles.

Ist es so, dann verliert der Tod für uns seine Schrecken. Denn auch er steht unter diesem selben Herrn im Himmel, als sein Diener und Bote. Unser keiner stirbt ihm selber. Auch hier hat der Krieg vielen geholfen, über das Enge und Kleine hinweg zu kommen. Wer hier draußen den Soldatentod erleidet, der stirbt für eine große, heilige Sache: für ein mächtiges, freies deutsches Vaterland. Sie alle, die wir hier in fremde Erde betten müssen, rechnen wir zu dem edlen Samen, daraus — wills Gott — eine gute, reiche Ernte für unser geliebtes Volk erwachsen soll. Ist das nicht eine Gewißheit, die gar viele mit dem Tod aussöhnen mag? Unser keiner stirbt ihm selber; sterben wir, so nimmt uns das Vaterland in seine Arme und segnet uns noch über den Tod hinaus.

Aber wieder will uns Gottes Wort höher emporführen, als bis zu diesem irdischen Ziel, so hoch das uns auch stehen mag. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Unser Glaubensauge ruht bei diesem Wort auf dem gekreuzigten und auferstandenen Heiland, der durch sein Sterben und Auferstehen dem Tod seine Macht und seinen Schrecken genommen und Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat. Wer lebend mit diesem Herrn im Glauben verbunden war, wer auf Ihn vertraut, wer sterbend — wenn auch vielleicht nur mit scheuen, tastenden Händen — nach Ihm gegriffen hat, über dem steht das hohe Wort des Osterfürsten: „Ich lebe, und Ihr sollt auch leben." Für den Christen bedeutet der Tod den Eingang zum ewigen Leben, den Weg zur vollen Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. In seiner Hand wissen wir [S. 4] darum die zahllosen Kameraden, die schon während dieses Krieges ihre Gräber gefunden haben, in Polen und Galizien, in Flandern und Nordfrankreich, auf dem Meeresgrund oder in heimischen Friedhöfen. Dieser unser Glaube ist der Sieg, der all die namenlose Trauer, die durch diese Gräber geweckt ist, überwinden hilft, wie herrlich ist es für die Trauernden daheim, wissen zu dürfen: unsere gefallenen Gatten, Söhne und Brüder sind nicht verloren; sie sind uns nur vorangegangen und erwarten uns bei dem lebendigen Gott. Wie herrlich ist es für uns, inmitten all der täglichen Todes-Gefahren wissen zu dürfen: Ob wir leben oder sterben, wir sind des Herrn.

Nicht wahr, Kameraden, die Gedanken des Toten-Sonntags machen uns nicht weich und untüchtig, sondern stark und froh, wenn anders wir Christen sind. Dem Herrn sei Dank dafür, daß wirs sein dürfen.

Amen.


  1. Pfarrer Christian Eisenberg war am 14.11.1914 in die Militärseelsorge eingetreten und von Kassel aus an die Westfront verlegt worden. Der Gottesdienst an Totensonntag, dem 22. November 1914, dürfte einer der ersten in seiner neuen Funktion gewesen sein.

Persons: Eisenberg, Christian
Keywords: Feldpredigten · Feldgeistliche · Feld-Divisionspfarrer · Evangelische Kirche · Totensonntag · Massengräber · Fahneneid · Kaiser · Schützengräben
Recommended Citation: „Feldpredigten des Feld-Divisionspfarrers Christian Eisenberg aus Marburg, 1914-1915, Abschnitt 1: Predigt I / 1 zu Römer 14, 7-8 (Totensonntag)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/76-1> (aufgerufen am 25.04.2024)