Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Feldpredigten des Feld-Divisionspfarrers Christian Eisenberg aus Marburg, 1914-1915

Abschnitt 2: Predigt I / 2 zum Vater Unser (Silvester)


Das Vater-Unser. Matthäus 6, 9 - 13.

Kameraden!1

Daheim in den Silvester-Gottesdiensten singen sie heute Abend gern das Lied: „Das Jahr geht still zu Ende, Nun sei auch still mein Herz". Das erstere können wir hier draußen nicht singen. Für uns geht das Jahr 1914 nicht still zu Ende. Im Gegenteil, der heutige Tag grade hat uns so viel Lärm draußen an der Front gebracht, wie lange nicht. . . . Aber das andere: „Nun sei auch still mein Herz" — davon möchten wir, daß es auch bei uns zur Wahrheit werde. Das kann auch hier geschehen, trotz aller Unruhe, die uns umgibt. Gott kann uns dazu helfen. Betend treten wir darum vor ihn in dieser Stunde. In unserem Text hörten wir das Gebet des Herrn. So viele Vater-Unser sind in diesem schweren Jahr gebetet worden, von unseren Lieben daheim, von uns hier draußen. Laßt uns in dieser letzten Stunde noch einmal betend und sinnend dieses Kleinod unter unseren Gebeten durchdenken, damit unsere Herzen darüber stille werden vor Gott.

Unser Vater, der Du bist im Himmel, wie groß ist das, was diese Worte uns künden! Den ewigen, heiligen Gott, den Schöpfer der Welt und Lenker ihrer Geschicke, der ein König ist aller Könige und ein Herr aller Herren, der über den Völkern waltet und sie alle in seiner Hand hält, — den dürfen wir unsern Vater nennen. Und ein Vater gibt seinen Kindern nichts, was ihnen schädlich wäre. Ein furchtbares Jahr nimmt von uns Abschied, nachdem es viel Leid und Trauer über unser Volk gebracht hat. Laßt uns nicht vergessen, daß Gott es uns gab; Er, der unser [S. 6] Vater ist; Er, der uns nichts Schlechtes gibt. Er weiß, was für jeden einzelnen unter uns gut ist, denn er kennt uns alle. Kameraden, laßt uns diesen großen Gedanken recht fest halten: Gott kennt uns alle; uns alle, die wir hier die lange Front bilden von der Schweizer Grenze bis zur Nordsee; sie alle, die im Osten auf den weiten unwirtlichen Gefilden kämpfen, und alle die Kameraden aus den pfadlosen Meeren; dazu alle unsere Lieben daheim, zu denen unsere Gedanken in diesen Tagen so oft wandern. Unser Vater, der du bist im Himmel — zu Dir blicken wir auf in gemeinsamem Vertrauen; wir tragen wir unsere Bitten vor. Welches sind sie?

Geheiligt werde Dein Name: Die große Zeit, in welcher wir leben, lehrt uns, von all dem Kleinen, persönlichen, das uns sonst erfüllt, weg zu sehen auf das Große, Gemeinsame: „Daß uns werde klein das Kleine, und das Große groß erscheine" — das ist eine gute Bitte für heute Abend. Der heilige Gott schreitet durch die Völkerwelt. Er wird Spreu und Weizen von einander scheiden. Seit Anfang des Krieges ist es uns oft gewesen, als schäume aus einem Hexenkessel alles Ungute und Unheilige, Widerwärtige und Gemeine im Leben der Völker ringsum empor; soviel Lüge und Treulosigkeit, so viel Gier und Selbstsucht, wo bleibt da zuletzt das Reine, Edle und Gute? Getrost! Gott sitzt im Regimente. Er wird unsere Bitte erhören und die gerechte Sache zum Sieg führen, damit zuletzt sein Name geheiligt werde, und nicht das Böse triumphieren darf.

Dein Reich komme. So vieles ist durch diesen furchtbaren Krieg schon zerstört worden; so viele Kulturwerte sind vernichtet; so vieles ist zertreten, was an Arbeit für das Reich Gottes aufgebaut war. Wir denken an die verwüsteten Missionsfelder und so manches andere. Aber doch sind wir überzeugt, auch wenn wir's im einzelnen nicht verstehen: zuletzt muß alles, auch dieser Krieg mit seinen Schrecken, dazu dienen, Gottes Gedanken mit der [S. 7] Menschheit zu fördern. So mag die Bitte um das Kommen seines Reiches unsere Herzen still machen über viel Rätselhaftem, das uns quält.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden. Man nennt diese Bitte die schwerste im Gebet des Herrn, wie schwer sie ist, das wissen die vielen, vielen daheim und hier draußen, denen der Krieg Wunden geschlagen hat, die niemand auf Erden wieder heilen kann. So manches Elternpaar, so manche Gattin, so viele Kinder denken heute Abend mit wehen Herzen an frische Gräber in fremder oder auch in heimischer Erde. Es ist schwer für sie, von Herzen zu sprechen: Nicht unser, sondern Dein Wille geschehe, o Herr. Und doch: wollen wir zum Frieden kommen, dann bleibt uns kein anderer Weg, als dieser. Der Christ kann ihn gehen; denn er darf wissen, daß Gottes Wille immer gut und recht ist; auch dann, wenn er den unseren durchkreuzt. — Für uns, die wir diesen Jahresschluß gesund und ohne Herzenswunden erleben dürfen, gilt dasselbe, wir wissen nicht, was uns das neu heraufkommende Jahr 1915 bringt: Heimkehr oder Tod. Wir wollen es in Gottes Hand stellen und tapfer beten: Dein Wille, o Herr, geschehe!

Aus hohen Gedanken führt uns Jesus mit der 4. Bitte in die Niederungen des Lebens, wenn er uns beten heißt:

Unser täglich Brot gib uns heute. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein; aber er kann es auch nicht entbehren. Wie freundlich hat Gott uns auch dabei in diesem schweren Kriegsjahr geholfen! Als durch die Mobil-Machung so viele fleißige Hände der beginnenden Ernte-Arbeit entzogen wurden, da hat gar mancher sorgenvoll in die Zukunft geblickt. Aber Gott hat geholfen. Er hat uns ein Erntewetter geschenkt, wie wir es lange nicht hatten, und er hat uns eine Ernte heimbringen lassen, die ausreicht, unser Volk für ein Jahr satt zu machen, trotzdem es durch den Krieg von so vielem abgeschnitten ist. Mit Schrecken merken unsere [S. 8] Feinde, wie stark Deutschlands wirtschaftliche Kraft ist. Mit Bewunderung sehen wir hier draußen, daß täglich genug da ist, um alle die hunderttausende unserer Truppen samt ihren Tieren satt zu machen. Dankbar falten wir darüber die Hände und vertrauen, daß der Vater im Himmel auch fernerhin unsere Bitte ums tägliche Brot erfüllen wird.

Nun führt uns Jesus wieder aufwärts mit unseren Gedanken, vom Irdischen hinweg zu dem, was unsere Seele bedarf.

Vergib uns unsere Schuld. Der gewissenhafte Mensch bringt am Jahresschluß seine Rechnungen in Ordnung und tilgt alte Schulden. Wie ist es damit zwischen Dir und Deinem Gott? Steht nicht mancher vor den abgelaufenen 365 Tagen wider Dich auf, um Dich zu verklagen vor dem heiligen Gott? Willst du diese alten Schulden mit hinüber schleppen ins neue Jahr? Laßt uns lieber den Weg gehen, den uns Jesus mit der 5. Bitte gehen heißt: daß wir demütig abbitten, was abzubitten ist. Diese stille Stunde hier vor Gottes Angesicht mit der sich anschließenden Abendmahlsfeier will dir Gelegenheit dazu geben. — Nur laßt uns den Zusatz nicht vergessen, den Jesus mit der Bitte verknüpft: wie wir vergeben unsern Schuldigern. Laßt uns nicht alten Groll und alte Feindschaften aus dem alten Jahr mit hinüber nehmen. Seid barmherzig wie Euer Vater im Himmel barmherzig ist.

Und führe uns nicht in Versuchung. Mit dem neuen Jahr werden neue Gelegenheiten zum Sündigen kommen. Jedes Lebensalter hat seine besonderen Versuchungen; jede Lebenslage hat die ihrigen, auch der Krieg. Laßt uns mit allem Ernst danach trachten, daß wir auch hier in fremdem Land und unter den besonderen Verhältnissen auf Gottes Wegen bleiben; laßt uns seine heiligen Gebote vor Augen und im Herzen behalten und daran denken, daß wir einst denen offen und frei wieder in die Augen sehen wollen, die uns hier mit ihrer Liebe und ihren Gebeten begleiten. [S. 9]

Erlöse uns von dem Bösen. Mit besonderer Inbrunst beten wir diese Bitte. Durch Millionen von Herzen hier draußen und daheim geht heute Abend die Frage: „Wie lange soll all die Not und der Jammer dieses Krieges noch währen? Ist es noch nicht bald genug mit all dem Blutvergießen? Wann werden wir heimkehren dürfen zu denen, nach welchen unsere Seele verlangt"? — Wir dürfen nicht müde werden. Wir sind bereit, zusammen mit unserem ganzen Volk auszuharren und durchzuhalten bis zum guten Ende. Aber wir wollen und dürfen auch die Hände falten und von Herzen bitten: „Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unserer Not". Erlöse uns von allem Bösen.

Denn Dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit, bis in Ewigkeit, wie drei mächtige Glockenschläge klingen diese Worte: Dein, o Herr, das Reich, die Kraft, die Herrlichkeit! „Wir erkennen hiermit — so heißt es im Katechismus — daß uns Gott dieses alles, welches wir bitten, geben wolle und könne zu Lob und Preis seines herrlichen Namens". Menschliche Hilfsbereitschaft findet so schnell ihre Grenze an menschlicher Ohnmacht. wir können oft nicht so, wie wir gern möchten. Gottes Macht aber hat keine Grenzen. Sein Name sei gelobt, Er vergißt unser nicht.

So laßt uns das Vater-Unser als unseren täglichen treuen Begleiter mit ins neue Jahr nehmen. Wenn wir's beten, wollen wir's im Geist und in der Wahrheit beten und dabei zuweilen an diese unsere Silvesterfeier in Feindes Land gedenken.

Amen.


  1. Die Predigt wurde am 31. Dezember 1914 gehalten.

Persons: Eisenberg, Christian
Keywords: Feldpredigten · Feldgeistliche · Feld-Divisionspfarrer · Evangelische Kirche · Mobilmachung · Silvesterfeier
Recommended Citation: „Feldpredigten des Feld-Divisionspfarrers Christian Eisenberg aus Marburg, 1914-1915, Abschnitt 2: Predigt I / 2 zum Vater Unser (Silvester)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/76-2> (aufgerufen am 26.04.2024)