Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 5: Kurzzeitig in Mont des Bruières, Tournai

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G.C. Noch ein kleines Bild des Krieges; Leutnant v. Sch. holte mich in Mont des Bruières, ich sollte mit ihm ein Wachtlokal suchen. Das ging etwa folgendermaßen zu: „Meine liebe Frau, wir nehmen Ihr Zimmer als Wachtlokal!" (Sie hatte 2 Räume, dieses Zimmer und 1 Schlafzimmer.) „Es ist gut, meine Herren!" — „Unsere Leute werden sich hier immer Schlafgelegenheit machen!" — „Es ist recht." — „Habt Ihr auch jemand im Kriege?" — „Ja, 5 Söhne, meine Stützen, seit August habe ich keine Nachricht von ihnen, es waren tüchtige Leute, die es alle zu etwas gebracht hatten." — Und sie öffnete ihre Gartentür und sagte: „Dort baut Ihr eure riesigen Erdwerke, die Ihr stehen laßt. Es war mein einziges Land. Ich hatte es gerade bestellt."
Wie leid tat uns allen diese Frau. Unsere Soldaten tranken mittags bei ihr Kaffee, die weißhaarige gute Alte sorgt mütterlich für alle. Und von dem bescheidenen Verdienst an dem Kaffee mußte sie leben. So sieht der Krieg selbst hinter der Front aus.

Der 24. März [1915] bringt uns nun endlich die Gewißheit, daß wir morgen früh fortkommen. Bleiben wir in Frankreich oder kommen wir nach Rußland? Sicher ist, daß für jeden Mann 8 eiserne Portionen mitgenommen werden. Das läßt auf etwas Außergewöhnliches schließen.
Abschied haben wir diesen Morgen noch von der gemütlichen Alten in Mont des Bruières genommen. Als wir fortzogen, drückte sie uns allen die Hand. Wir wären gute Soldaten gewesen und sie wünsche uns gute Heimkehr. Und noch etwas ganz Merkwürdiges hat sich hier ereignet, das wohl wert ist, daß man es hier festhält. Einer unserer Leute hatte von Ingolstadt her eine Photographie mit verwundeten französischen Soldaten, die in Maubeuge gefangen genommen wurden. Sie fand [S. 122] ihren fünften Sohn darunter, der in der Festung Artillerist war. — Laut schrie sie aus, als sie ihn sah. Und dann schluchzte und weinte sie ohn' Unterlaß. Sie lief gleich nach St. Amand, holte ihren einen Sohn, den Priester, und ihre Tochter, die es gerührt bestätigten. Das war das erste Lebenszeichen von ihrem fünften Sohne. Die Photographie haben wir ihnen belassen. Sie bewahren sie in einem Kästchen in Seidenpapier gehüllt wie ein Heiligtum auf. Wir konnten diese seltsame Fügung kaum begreifen, sie war uns zu merkwürdig. Wir meinten, sie könne sich vielleicht täuschen, aber freudestrahlend sagte sie: „Eine Mutter kennt ihren Sohn immer!" — Wir haben uns mit ihr gefreut.

25. März 1915. Das ist ein schwerer Tag für uns gewesen! Morgens 7 Uhr ging's bei strömendem Regen von St. Amand fort. Unsere Last hat uns hart gedrückt, und unsere Füße brannten wie Feuer. Wir sind die lange Strecke ohne Pause durchgelaufen, immer drauflosgelaufen, immer bergauf, bergab durch die windmühlenreiche Landschaft, in der schon die ersten blühenden Bäume ihre tropfenden Zweige in den Nebel und Regen hineinstreckten.
Mittags um 12 Uhr sind wir in Tournai todmüde angekommen. Wir haben unterwegs gesungen, sogar dreistimmig schallte unser schönes: „Wie ein stolzer Adler schwingt sich auf das Lied" durch das Land, und B. und ich erfreuten die müde Kompagnie durch das „Georg, du mußt jetzt nach Amerika".
Augenblicklich sitzen wir in einer Kneipe gegenüber unserm Quartier, wo wir am Ofen unsere völlig nassen Kleider trocknen. Wir logieren auf dem Steinfußboden eines Kino. Decken gibt's nicht.
Den Abend verbrachte ich mit Kl. bei einem reichen Großkaufmann in recht angeregter Unterhaltung. Er konnte nicht begreifen, daß die deutschen Soldaten mit solcher Begeisterung und Todesverachtung gegen einen an Zahl so übermächtigen Gegner kämpfen.
Dem kalten Tage und der noch kälteren Nacht folgte sonnenklar und hell der 27. März. Um 5 ½ Uhr ging's raus, um ¾ 9 Uhr sollen wir feldmarschmäßig antreten, und um 10 Uhr beginnt unsere Reise mit unbekanntem Ziel.
In unserm Kino versammelte sich noch die ganze Kompagnie beim Abschied, und bei Klavierbegleitung schallte unsere alte „Wacht am Rhein" und unser „Deutschland über alles" durch den Saal, und dann ging's hinaus zum Bahnhof. Die Sonne schien hell und klar, aber es war trotzdem ein kalter Tag.


Persons: Fischmann, Wilhelm
Places: Mont des Bruières · Ingolstadt · Maubeuge · Saint Amand · Tournai
Keywords: Zivilbevölkerung · Kriegsgefangene · Verwundete · Windmühlen · Die Wacht am Rhein · Deutschland, Deutschland über alles · Westfront · Frontabschnitt: Nordfrankreich
Recommended Citation: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 5: Kurzzeitig in Mont des Bruières, Tournai“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/164-5> (aufgerufen am 23.04.2024)