Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 2: Fahrt durch Belgien nach Tournai

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Gegen 3 Uhr passieren wir bei Herbesthal die frühere belgische Grenze, die für hier angesetzte Verpflegung bleibt aus. Wir essen trockenes Kommißbrot, das uns bei unserm Hunger auch ganz annehmbar schmeckt.
Es ist eine wundervolle, fröhliche Fahrt durchs Belgierland.
Wir verschlafen das alte zerschossene Löwen, Brüssel, und werden am 13. März nachts 3 Uhr unsanft am Reiseziel auf unserm tiefen Schlafe geweckt.
Unsere Sachen werden schnell zusammengepackt, die 60 Pferde werden ausgeladen, die Wagen und Gulaschkanonen herausgeschafft, und so zieht gegen 3.45 Uhr morgens die Kompagnie zu unserm ersten Quartier, der Kavalleriekaserne in Tournai. Oberleutnant D. läßt mich mit 12 Mann bei den Pferden zurück. Ich soll mir hinterher einen Polizisten holen, der mich führt. Und diese Wartezeit, wir warten nämlich auf das Eintreffen des Divisions-Brückentrains, verbringe ich bei alten, gemütlichen norddeutschen Landsturmleuten der Bahnhofswache Tournai.
Um 10 Uhr vormittags ist in Tournai noch nichts angekommen, wohl große Mengen Geschütze und Protzen, aber unsere Pontons bleiben aus. So habe ich Muße, mir die Stadt anzusehen und [S. 104] Land und Leute etwas kennen zu lernen. Die frühen Morgenstunden bringe ich in einem Café zu, wo ich mich auch seit drei Tagen wieder einmal richtig wasche. Ich unterhalte mich lange mit den Wirtsleuten. Es sind freundliche, nette Leute, denen man jedoch trotz ihrer Liebenswürdigkeit ihre Feindschaft anmerkt. Seltsam ist es mir, als auch sie die Engländer als den wahren Feind erklären. Es dämmert bei ihnen.
Tournai, das ich im lachenden, warmen Frühlingssonnenschein durchwandere, ist ein freundliches Städtchen mit breiten, eleganten Straßen. Auf einem breiten Kanal schaukeln schmucke kleine Segelschiffe und Schleppkähne. An beiden Seiten bieten Marktfrauen ihre Erzeugnisse an. Es ist ein idyllisches, gemütliches Bild. Die Straße, die vom Bahnhof ausgeht, findet ihren Abschluß in der Kathedrale, die hoch über der Stadtsilhouette hervorragt. In den Straßen tummeln sich Massen von Feldgrauen, es sollen allein 5000 Bayern hier liegen. Das ist das einzige, was einen an den Krieg erinnern könnte.
Es ist ein einzig schöner, herrlicher Frühlingstag. Friedlich und still liegt die weite, weite Ebene hinter dem Bahnhof da, mehrere Windmühlen drehen dort träge ihre Räder, es wär' eine Lust, heute in den Frühling hineinzuwandern, hinauszulaufen über die grünen Ebenen mit ihren Kanälen; wer weiß, in wie kurzer Zeit uns das blühen wird.
Es ist ½ 11 Uhr. Ein Posten meldet mir, daß soeben der Divisions-Brückentrain eingelaufen ist. Jetzt muß ich hinaus an meine Arbeit, um endlich mit meinen vom Stehen müden Mannschaften zur Kavalleriekaserne aufzubrechen.
Ich soll mit unserer Ordonnanz in das Quartier unseres Oberleutnants ziehen. Rue St. Brice 50 liegt das herrschaftliche Haus. 3 dienstbare Geister beeilen sich, mir meine Sachen abzunehmen, und die ziemlich ältliche Tochter des Hauses geleitet mich nach Landessitte auf mein Zimmer, nachdem ich auch den geschmackvoll eleganten uralten Rokokosalon des Oberleutnants mir angesehen habe. Mein Zimmer enthält einen Marmorkamin mit altem Porzellan und glatten Leuchtern, ein breites, elegantes Bett und die gewohnte gediegene Einrichtung. Aber was mein Auge berauscht und entzückt, das ist der Blick über das 40 000 Einwohner zählende Städtchen. Stolz hebt der Dom seine vielen Türme in den lachenden Frühlingshimmel, die Silhouette verliert sich in der grünen weiten Ebene im herrlichen Blau des Himmels, die Glocken klingen traulich übers Land, die Lerchen steigen jubelnd in die Luft, und am Dachfirst schmettert der Star sein Lied. Und die Zypressen schaukeln im Frühlingswinde, Männlein und Weiblein kommen heraus aus ihren engen Häusern, und auf den Straßen sonnen sich die Maulesel vor ihren zweirädigen Karren. Das soll der Krieg, der grausam männermordende Krieg sein? Ich hatte die Ehre, nachdem ich mich frisiert und gebadet hatte, noch einmal die Tochter des Hauses mit ihrem würdigen alten Vater, einem reichen Reeder, zu begrüßen. Wir unterhielten uns noch in ziemlich fließendem Französisch über den Krieg, ohne uns gegenseitig nahe zu treten, dann entfernte ich mich; mich zog's hinaus in die Stadt.


Persons: Fischmann, Wilhelm
Places: Herbesthal · Belgien · Löwen · Brüssel · Tournai
Keywords: Truppentransporte · Kommißbrot · Pferde · Gulaschkanonen · Feldküchen · Kavalleriekasernen · Geschütze · Protzen · Pontons · Engländer · Segelschiffe · Schleppkähne · Feldgrau · Bayern · Windmühlen · Brückentrains · Maulesel · Westfront
Recommended Citation: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 2: Fahrt durch Belgien nach Tournai“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/164-2> (aufgerufen am 26.04.2024)