Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 1: Ausmarsch und Fahrt zur belgischen Grenze

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[Vorbemerkung des Herausgebers]

G.C.1 Wiederum bringen wir unsern Lesern Auszüge aus dem Kriegstagebuch eines hessischen Kriegsfreiwilligen. Der Verfasser, ein geborener Kasseler, schrieb das Tagebuch unter dem frischen Eindruck der Geschehnisse in Briefform an seine junge Frau, mit der er erst sechs Monate verheiratet war. Während zwei Brüder sich als Kriegsfreiwillige beim Kasseler Artillerie-Regiment2 meldeten, trat der Verfasser bei einem bayrischen Pionier-Bataillon3 ein. Zurzeit ist er Leutnant bei einer Scheinwerfer-Abteilung.


[Beginn des Tagebuchs]

11. März 1915. Der Tag des Ausmarsches ist gekommen, Um ½ 4 Uhr nachts müssen wir auf von unserm harten Lager. Noch schnell den Tornister geschnallt, den schweren Leibriemen um und das Gewehr geschultert. So steht um 5 Uhr die Kompagnie in der kalten Nacht auf dem Hof, der von Fackeln erhellt ist. Unser Oberleutnant spricht kurz und herzlich zu uns. Dann: Stillgestanden! — Mit Gruppen rechtsschwenkt — marsch!
Und die Trommeln und Trompeten schmettern, die Helme fliegen in die Luft und brausende Hurras, die die ganze Kaserne alarmieren, schallen zum Himmel. So ziehen wir bei Fackelschein mit Musik und Gesang zum Bahnhof. „Heimat, o Heimat, ich muß dich verlassen, Frankreich läßt mir keine, — keine Ruh, — heute marschieren wir nach Frankreich zu."4
Am Bahnhof erwartete uns unser Kommandeur. Noch ein paar herzliche Worte an uns Krieger, dann hieß es: „zum Gebet!" Und dann erklangen die Hornsignale zum Einsteigen. Auch jetzt nach 7 Monaten dieses Krieges wurden wir mit Liebesgaben überschüttet, werden noch mit allem reichlich versehen.
Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, Juchzer und Hurras tönen über die weite Donauebene. Wir sind fröhlichster Stimmung.
Um 3 Uhr passieren wir das wunderbare alte Nest Geislingen in der bergigen Schwäbischen Alp, die mich mit ihren Burgen und Bergen, ihren tiefen Tälern und Wäldern lebhaft an mein geliebtes Thüringen, aber auch an das hessische Bergland und die Rhön erinnert. Und weiter geht's das Neckartal hinab, am von Weinbergen umrahmten Eßlingen vorbei nach Stuttgart zu.
An den Bahnhöfen wehen überall die Fahnen. Wir erfahren den Sieg in der Champagne, wo die Franzosen 45 000 Mann Verluste hatten. Und 2 Divisionen hielten hier 6 aufgefüllten französischen Armeekorps stand. Ein gutes Omen.
Ich war angenehm überrascht, im schönen Rüdesheim den lichterfunkelnden Rhein endlich zu sehen und meine Hurras trieben den Oberleutnant vom Lager, der sich ebenfalls freute, das schöne Bild sehen zu dürfen. Und weiter geht's in die Nacht hinein an Weinbergen und Burgen vorbei, gespenstisch hebt sich der Mäuseturm aus dem Wasser, Caub, Bacharach lassen wir hinter uns liegen und so bricht der Morgen des 12. März heran, der uns bei Coblenz über die von Maschinengewehren bewachte Rheinbrücke führte. Wie zur Huldigung des Altvaters Rhein hält unser Zug solange, als unsere „Wacht am Rhein" über die Wellen braust. Nebel liegt über dem Tale, hoher Schnee ist gefallen, wir können vom Kaisereck, vom Rolandsbogen, vom Drachenfels nichts sehen. Und mein liebes Bonn, unser Verbindungshaus sehe ich wieder; aber in schnellem Tempo geht's nach Cöln.


  1. Die Buchstaben „G.C.“ zeigen die Druckgenehmigung durch die militärische Zensur beim Stellvertretenden Generalkommando in Kassel an.
  2. Beim 1. Kurhessischen Feldartillerie-Regiment Nr. 11 in Kassel.
  3. Die Erwähnung der "weiten Donauebene" im folgenden Abschnitt belegt, dass es sich bei dieser Pionier-Einheit nur um das 3. oder das 4. Bayerische Pionier-Bataillon handeln kann. Beide waren in Ingolstadt stationiert.
  4. Das Lied "Heimat, o Heimat" entstand 1914 oder 1915. Der Autor ist nicht bekannt. Der Liedtext lautet "Heimat o Heimat | bald muß ich dich verlassen | denn unser Kaiser | er ruft uns zu den Waffen | läst uns keine, keine Ruh | morgen marschieren wir Frankreich zu. || Frankreich o Frankreich | wie wird es dir ergehen | wenn bald die deutschen Soldaten | du wirst sehen | Deutsche Grenadiere | tragen schwarz-weiß-rot | weh o weh | o wehe Franzosenblut || Unsere Parole heißt: | Drauf auf die Franzosen | Englische Söldner | die werden auch gedroschen | und dann kommt der Russe noch im Osten dran | s´ sind gar ihrer viele | die uns greifen an". Siehe Volksliederarchiv

Persons: Fischmann, Wilhelm
Places: Ingolstadt · Kassel · Frankreich · Donau · Champagne · Rüdesheim · RheinKaub · Bacharach · Koblenz · Rolandseck · Drachenfels · Bonn · Köln
Keywords: Kriegsfreiwillige · Feldartillerie-Regiment Nr. 11 · Pioniere · Pionier-Bataillone · 3. Bayerisches Pionier-Bataillon · 4. Bayerisches Pionier-Bataillon · Leutnante · Scheinwerfer-Abteilungen · Stellvertretendes Generalkommando · Zensur · Tagebücher · Tornister · Gewehre · Oberleutnante · Soldatenlieder · Liebesgaben · Truppentransporte · Maschinengewehre · Die Wacht am Rhein
Recommended Citation: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 1: Ausmarsch und Fahrt zur belgischen Grenze“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/164-1> (aufgerufen am 26.04.2024)