Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 37: Rückfahrt von der Somme nach Deutschland

[336-337]

Am Nachmittag war eine außerordentlich heftige Beschießung eines Farman-Doppeldeckers1 mit Ballonabwehrkanonen. Wegen unserer plötzlichen, so sehr erfolgreichen Angriffe, besonders in den Argonnen, vermuten sie den Beginn der Offensive. Fesselballons stehen drüben am Himmel, die Nacht wird durch starkes Feuer eingeleitet.
Unser Oberleutnant D. bittet uns 4 Offiziers-Aspiranten zu sich. Er nimmt herzlichen, bewegten Abschied von uns, leider hätte er uns keine Auszeichnung verschaffen können, da die Division schlecht damit bedacht sei, unser gleich großer Stolz solle in dem Bewußtsein bestehen, die Pflicht erfüllt zu haben.
Der Abschied vom lieben H., L., W. und vom lieben Leutnant Sch. fällt mir schwer. Mein gemütliches Gartenhäuschen räume ich schweren Herzens dem L. und H. ein. Und jetzt noch das Ränzel geschnürt für morgen früh.
Diese letzte Nacht wird mir unvergessen bleiben. Eine mächtige Kanonade rüttelte mich aus dem Schlaf. Andauernd heulten Granaten und Schrapnells. Sie platzten gerade hoch über uns, wo wir mit seltener Heftigkeit ein französisches Flugzeuggeschwader, das aufklären sollte, beschossen. Um 5 Uhr ging's aus den Federn, meine Sachen wurden auf dem Rollwagen verstaut, Zahlmeister H. begleitete uns auf unserer fröhlichen Fahrt, und dann fuhren wir noch einmal durchs Dorf Péronne2 [S. 337] zu. Wie sich's gehört, hatte der Himmel sein schönstes Gesicht aufgesetzt. Heiß brannte die Sonne auf die Straße und das goldene Korn. Berny3 und Barleux4 zog an uns vorüber, unser früheres Quartier Le Mesnil5 kreuzten wir und dann fuhren mir zu einem pioniertechnischen Wunder, der 540 m langen schweren Kolonnenbrücke über die Somme und ihre Sümpfe. Um 11 Uhr fuhren mir durch die Mauern von Péronne, an den Lazaretten vorbei zum „Deutschen Haus", wo mir bei echtem Kulmbacher Abschied feierten.
1.46 Uhr fuhr der Zug nach St. Quentin ab. Den mehrstündigen Aufenthalt dort benutzten wir zu einem Bummel durch die Stadt zu den Champs Elysées. Was war das hier für ein Betrieb! Die Bevölkerung scheint ihr Los vergessen zu haben. Kinder und junge Damen ganz in Weiß, die Mütter saßen auf den Bänken im Schatten der alten Bäume und stickten und häkelten, die elegante Jugend (das männliche Geschlecht fehlt allerdings völlig, wenn man unsere biederen Feldgrauen nicht dazu rechnen will) bummelte in den Anlagen. Als wir wieder am Bahnhof ankamen, fuhren in langen Reihen Autos des Roten Kreuzes vor, die Massen von Schwerverwundeten brachten. Bei Bapaume6 sollen heftige Kämpfe stattgefunden haben.
Unsere Fahrt führt uns wieder durch weite Ebenen, denen die zahlreichen, mit hohen Pappeln bepflanzten schnurgeraden Staatsstraßen ein recht langweiliges Aussehen verleihen bis Ternier7. Wir haben längeren Aufenthalt und können die halsbrecherischen Flugleistungen zweier Flieger, die dicht über dem Erdboden ihre gefahrvollen Kunststücke machen, bewundern. Aber bald geht's weiter, über Pionierbrücken fort und über breite Kanäle weg. In unserm Abteil wird's gemütlich. Trommeln und Pfeifen klingen im Nebenabteil, und ein Kölsche Jung, ein Glasschleifer, erfreut uns durch seinen prächtigen Tenor. „Dir will ich diese Lieder weihn, geliebtes deutsches Vaterland!" Er singt's mit Heller, herzlicher Begeisterung, ich singe zweite Stimme dazu, alles lauscht andächtig. Und dann geht das Erzählen los. „Wo hast Du gestanden, Kamerad?" — „Hast Du auch Urlaub?" — „Bist Du auch verheiratet?" — „Ich habe drei Kinder daheim, eins ist schwerkrank, jetzt will ich alle mal besuchen." So erzählten alle, um alle war ein Band geschlungen, das Band der Freundschaft und der Vaterlandsliebe, Herz fand sich zu Herzen.
Laon!8 Wie ändert sich die Landschaft! Hoch am Berge liegt weithin sichtbar der Friedhof, und dahinter die türmereiche, prächtige Kathedrale, an deren Fuß sich wie ein grünes Band die geschnittenen Bäume einer geraden Allee um den Berg herumziehen. Unser Aufenthalt im Städtchen war nur kurz. Bald fuhren wir wieder durch die Dämmerung hin. Es war lautlos still bei uns geworden. Durch dichte Laubwälder fuhr keuchend der dumpfe Zug, zur Rechten hob sich tiefschwarz ein waldiger Bergrücken am goldenen Himmel ab. Ab und zu ein kurzes Halten. Zwei schwerverwundete Franzosen wurden auf Tragbahren an den Zug getragen. Wir nickten ihnen zu, sie antworteten mit einem müden Lächeln: „Bonjour Kamerad!" — „Blessé? Lazarett bon!" — so riefen ihnen unsere Feldgrauen aufmunternd zu; jetzt waren's ja keine Feinde mehr. Alle wollten ihnen etwas Gutes sagen. Man gab ihnen Zigaretten, sie rauchten sie nicht, aber man sah ihr freudiges Aufatmen. „Ganz so schlimm scheinen diese doch nicht zu sein." — Und im ganzen Zug war auch mitteilsame Freude, war es doch der Zug, der uns alle in die teure Heimat führte.
Nachts fuhren wir durch Sedan und Montmédy9. Wir haben nichts von den historischen Städten gesehen. An uns vorüber fuhren keuchend und langsam endlose Munitionszüge, ein Lazarettzug und Züge mit Truppen. Als der Morgen graute, fuhren wir durch altes Kampfgebiet, das völlig zerstörte Longuyon10, und manch zerschossenes und verbranntes Nest sahen wir. Um 6 Uhr war Metz erreicht. Also endlich wieder in Deutschland. Wir wichen jetzt nicht mehr vom Fenster. Und dann kam Straßburg. Wirklich, das ist ein deutsches Nest. Wie wurden wir da empfangen! Täglich kommen doch hier solche endlosen Züge an, und das soll immer hier so sein? Wir konnten unsere Tränen allesamt nicht zurückhalten, aber wir schauten alle zum Fenster hinaus, der eine wollte sie vor dem andern verbergen. An allen Bahnkreuzungen schrien sie Hurra, aus allen Fenstern winkten sie uns zu, und liebe, kleine Mädels (Herr Gott, deutsche Mädels) überhäuften uns mit Liebesgaben.
Und dann kam der Rhein. Der liebe, alte Rhein. Der ganze Zug sang, wie wohl jeder Soldatenzug, brausend die Wacht am Rhein. Wir sangen sie zum Fenster naus mit; viel haben wir vor Freude nicht singen können.
Am Schwarzwald ging's vorbei über Baden- Baden, Stuttgart — durchs schöne Schwabenländle —, Ulm nach Ingolstadt. Und der nächste Tag brachte mich heim zu meiner lieben Frau und meinem Jungen ins Seligenthaler Pfarrhaus.
Und unsere Freude, die brauche ich wohl nicht zu beschreiben. —
Wo geht's das nächste Mal hin?


  1. Ein Doppeldecker der französischen Flugzeugbaufirma Farman. Siehe oben Abschnitt 21.
  2. Péronne, Ort an der Somme, Département Somme.
  3. Berny-en-Santerre, etwa 11 km südwestlich von Péronne
  4. Barleux, Ort etwa 6 km südwestlich von Peronne.
  5. Wahrscheinlich Mesnil le Petit, nördlich von Nesle.
  6. Bapaume, Kleinstadt im Département Pas-de-Calais.
  7. Tergnier, Gemeinde im Département Aisne.
  8. Laon, Stadt im Département Aisne.
  9. Montmédy, Gemeinde im Département Meuse, etwa 50 km nördlich von Verdun.
  10. Gemeinde im Département Meurthe-et-Moselle, eta 50 km nordwestlich von Thionville.

Persons: Fischmann, Wilhelm
Places: Argonnen · Péronne · Berny-en-Santerre · Barleux · Le Mesnil le Petit · Somme · St. Quentin · Bapaume · Tergnier · Laon · Sedan · Montmédy · Longuyon · Metz · Straßburg · Rhein · Baden-Baden · Stuttgart · Ulm · Ingolstadt · Seligenthal · Nesle · Thionville
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Recommended Citation: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 37: Rückfahrt von der Somme nach Deutschland“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/164-37> (aufgerufen am 24.04.2024)