Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 33: Heftiger Beschuss im Unterstand, Beerdigung

[297, 333]

Um 10 Uhr kamen die ersten unserer mit Baustoffen hochbeladenen Wagen angeknarrt. Ungefähr 200 Mann Infanterie saß am Straßengraben oder in dem zerschossenen Depot und rüsteten sich für die Beförderung der Bohlen, Balken, Bretter, Faschinen, der Hindernispfähle und des Stacheldrahts.
Kaum waren 5 Wagen hintereinander aufgefahren, krachte 50 m von mir entfernt mitten auf der Straße eine Granate, die zweite schlug gleich danach ungefähr 20 in entfernt von mir ein, 5 Mann neben mir blieben verwundet liegen, die Pferde, von denen eins getroffen war, rannten führerlos fort, es entstand eine Panik, da nirgends Deckung war. Leute lagen am Boden, Gewehre waren verloren gegangen, ich rufe den nächsten zu: „Mir nach!" und stürme zum neuen Unterstand, bei dem erst ein Rahmen gesetzt war, und der vielleicht für 2 Mann nur Platz bot. Ich lasse mich den 5 m tiefen Schacht hinabfallen. Auf mich springen andere, aber Schmerzen spürt man jetzt nicht. Zu 15 liegen wir aneinander gepreßt, und schon kracht der dritte Schuß der schweren Granaten, die ein Backsteinhaus glatt durchschlug und zerspringt dicht vor unserm Unterstand, daß Erde auf uns fällt, O, wie klein und schwächlich sind wir. Der vierte Schuß saust heulend nach einigen Minuten ins Depot und so geht's weiter, Schuß für Schuß sitzt. Wenn der erste nicht auf eine Stelle der Straße gefallen wäre, wo gerade niemand war, so hätten wir 50 oder mehr Tote haben können.
Ich komme mir vor wie der Vogel Strauß. Mein Unterstand scheint mir granatensicher, eine steinerne Mauer gab mir schon das Gefühl der Sicherheit, und doch gibt all dieses nur Schutz gegen Splitter, ein Volltreffer würde auch meinen Unterstand eingeschlagen haben. Die Beschießung dauerte wohl 1 ½ Stunden mit Unterbrechungen. Wie groß die Verluste sind, vermag ich noch nicht zu sagen. Als ich hinterher wieder auf die Straße hinausging, waren die Leute in alle Winde zerstreut und an Transporte nicht mehr zu denken. Im Galopplauf sind wir zu fünft ungeachtet aller Infanteriekugeln über freies Feld, durch zerschossene Häuser und wieder freies Feld zum Laufgraben gelaufen, der uns heimwärts brachte.
Die hätten uns gestern erwischen müssen, wo ich den gefährlichen Transport von 10 Faß Pulver zur Stellung hatte! Das müßte schrecklich geworden sein.
Diese nämliche Nacht ist von den benachbarten ... ern ein Angriff gemacht worden. Sie haben einen feindlichen Graben genommen und halten ihn.
Auch unsere Pioniere (10 Mann) machten mit einem Zug Infanterie eine gewaltsame Erkundung. Sie drangen mit Handgranaten in den feindlichen Graben ein, hatten jedoch keinen Erfolg, Wir haben wieder 2 Schwerverwundete. Die ganze Nacht war von ½ 2 Uhr ab starkes Geschützfeuer, das bis in den Morgen hinein dauerte.

[S. 333] G.C. Die Tage vom 8. bis 11. Juni [1915] verliefen im regelmäßigen Einerlei. Ich habe wie in den letzten Tagen ständig Transporttrupps von Infanterie zu führen, eine undankbare und jetzt doch so gefährliche Aufgabe. Sowie die Dämmerung hereinbricht, wird V. und sämtliche Zufahrtstraßen und Teile der Laufgräben unter starkes Artilleriefeuer genommen, wir atmen froher auf, wenn wir jedesmal im Schützengraben oder in A. sind.
Wir hatten Angst wegen des Durchhaltens. Wochenlang hatte glühend die Sonne geschienen, und das ausgedörrte Land dürstete nach Regen. Den haben wir in diesen 4 Tagen endlich Gott sei Dank ausgiebig gehabt, bis an die Knie haben die Leute in den Laufgräben im Wasser oder Schlamm gestanden, aber trotz ihres Fluchens haben sie sich doch ehrlich gefreut. Gott sei Dank, jetzt werden wir auch eine gute Ernte bekommen, da können wir ein weiteres Jahr aushalten.

In der Nacht vom 11. zum 12. Juni bekam unser Hindernistrupp durch Granatfeuer zwei Schwerverwundete.

12.6.15. Heut lacht die Sonne wieder in altem Glanz und alter Schönheit. Da haben wir wieder einen Toten feierlich auf dem kleinen Friedhof hier begraben. Unser lieber Josef B. vom Hindernistrupp ist dem W. bald nachgefolgt. Um ½ 6 Uhr wurde sein Brettersarg, den wir ihm selbst gezimmert haben, von 6 Pionieren aus der Kirche getragen. Vorweg trug man sein Grabzeichen, ein schlichtes und doch schönes Birkenkreuz mit einer Tafel, die seinen Namen trägt, dann folgte ein Pionier mit einem riesigen Kranz aus Immergrün und Rosen und einer selbstgemachten Schleife, der schlichte Sarg, der katholische Pfarrer in Feldgrau, unsere Offiziere und wir Pioniere. Um den B. trauern daheim keine Angehörigen, aber wir 200 Mann der kleinen Kompagnie, die sich alle kennen und so viele ernste, aber auch fröhliche Stunden zusammen verleben, sind wie eine Familie. Um den haben viele geweint, 400 Augen waren naß, als der Geistliche und unser tief bewegter Oberleutnant ihm Nachrufe am Grabe widmeten. Und dann haben wir seinen Sarg mit Erde bedeckt. Wer wird von uns der Nächste sein?
Abends hatte ich Transporte zur Stellung, heimwärts ließ ich meine Leute die schweren Minen unserer wieder zurückgeschafften Erdmörser zum Munitionsdepot schaffen. Wir kamen ohne Unfall durch die Gefahrzone zurück.


Persons: Fischmann, Wilhelm
Keywords: Infanterie · Granaten · Pferde · Gewehre · Laufgräben · Munition · Handgranaten · Verwundete · Artilleriefeuer · Feldgeistliche · Feldgrau · Offiziere · Pioniere · Beerdigungen
Recommended Citation: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 33: Heftiger Beschuss im Unterstand, Beerdigung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/164-33> (aufgerufen am 06.05.2024)