Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 35: Wanderung nach Chaulnes

[334-335]

23. und 24.6.15 sind Ruhetage für mich. Ich habe mein Ränzel gepackt, es muß ja bald los gehen. Am Morgen des 23. 6. läuteten auch hier wundervoll die Glocken. Ich habe vom Bett aus ihren Klängen gelauscht.

25. und 26.6.15. Ich muß wieder mit dem Hindernistrupp ausrücken. Es ist, trotzdem es draußen schön Wetter ist, ein furchtbarer Dreck im Laufgraben. Der Mond schien silberhell, es war ganz angenehm draußen. Am 26. 6. lud mich Leutnant Z. in seinen Unterstand ein. Wir haben die ganze Nacht verplaudert, dazu gab's eingemachte Früchte, Kaffee, Münchener Bier, Keks, ein buntes Durcheinander seltener Delikatessen, die uns das ungemütlichste Bauchweh einbrachten.

27.6.15. Ruhetag. Mit meinem lieben Kameraden H., einem reizenden, feinen Menschen, habe ich einen unerlaubten Ausflug über Land verabredet, eine Nervenausspannung ist trotz der Ruhetage wohl einmal nötig.
Wir laufen zuerst nach dem benachbarten P.1 Der Ort ist von unsern Truppen tadellos sauber zurechtgemacht; ja, ein paar Infanteristen, anscheinend Kunstgärtner, haben Blumenbeete geschaffen, wie man sie prächtiger auf der Schönen Aussicht in Kassel oder vor Schloß Wilhelmshöhe auch nicht findet. Im Ort ist von uns ein „Trinkwasserbereiter" ausgestellt, eine große fahrbare Maschine, die den ganzen Ort mit Trinkwasser versorgt.
Über blumige Felder kommen nur an einem herrlichen Laubwald vorbei. Wie heimatlich der uns anmutet! Wir haben merkwürdige französische Verteidigungsanlagen, immer dicht hintereinander liegende Schützengrabenstücke und Erdlöcher in ihm gefunden, deren Zweck wir nicht ergründen konnten. Wir liefen weiter nach Ch.2 zu, kamen an Feldartillerie vorüber, die sich einschießen wollte, aber in Deckung gehen mußte, weil drüben bei den Franzosen auf der ganzen Front die Fesselballons hochgegangen waren. Die erwarten wahrscheinlich nach der Einnahme von Lemberg3 unsere Offensive. Aber da werden sie lange warten können.
Ch. ist ein nettes Städtchen. Die einstöckigen Häuser sind zwar geschmacklos wie überall in Frankreich, aber eine schöne vierreihige, breite Allee verleiht dem Ort sein eigenes gemütliches Gepräge. Gleich am Eingang bildet eine Kapelle den Abschluß dieser Baumstraße, und an ihrem Fuße liegen blumengeschmückt 2 Massengräber; in einem liegen Hessen, im andern Franzosen, und dieses Grab ist von der einheimischen Bevölkerung besonders schön mit Blumen geschmückt.
[S. 335] Das Städtchen liegt nur 2 km von den deutsch-französischen Schützengräben entfernt, es wird aber nicht beschossen. Es mutete mich aber dennoch seltsam an, sonntäglich geputzte Leute hier spazieren gehen zu sehen, sogar geschminkte junge Mädchen liefen hier herum.
Läuft man die Allee entlang, so kommt man an zerschossenen und ausgebrannten Häusern vorbei. Zur Linken reckt eine hübsche Kirche ihre kahlen Mauern noch empor. Wir haben hier haltgemacht und den Bau besichtigt. Das Dach war fort, durch die Trümmer der bunten, blauen, hohen Fenster fiel der goldene Sonnenstrahl und beleuchtete grell ein Chaos von Heiligenbildern, Marmorsäulen usw. Eine einzelne hohe Säule reckte sich noch empor, und unverletzt standen einzelne steinerne Heilige noch an den Wänden. Die Franzosen haben die Kirche selbst beschossen, mächtige Granatlöcher im Sandsteingiebel und den umliegenden Häusern erzählen noch hiervon.

Wir gehen die Allee weiter. Mit Holzkreuzen geschmückte Kriegergräber umgeben das Denkmal des Gelehrten Lhomond4, das die Inschrift trägt:
„Hommage au savant et modeste Professeur. Monument honoré de la souscription de S.M. l’Empereur Napoléon III.”. Sein Geburtshaus neben dem Schloß fanden wir ausgebrannt.
Am andern Ende wird die Straße durch einen wunderschönen Park mit mächtigem Schloß abgeschlossen. Zwei hohe Pappeln schmücken die große eiserne Pforte, an der ein hessischer 117er5 Wache hält. Er gestattet uns nur den Eintritt in den vordersten Teil des Parkes, der ein riesiger Waldfriedhof geworden ist. Hier liegen Offiziere und Mannschaften durcheinander, jedes Grab ziert ein Holzkreuz und Blumen, manche Gräber sind mit einzigschönen künstlerischen Steinen geschmückt. Ein französisches Massengrab fällt mir noch besonders ins Auge, es ist wunderschön geschmückt und sein Holzkreuz ragt über alle heraus. Ich muß da an den gefallenen Kameraden denken, den wir als Sandsack verwandt in einer Schulterwehr des eroberten französischen Grabens fanden. Auch der hat von uns jetzt seinen Grabstein bekommen: Hier starb den Tod fürs Vaterland, ein Preuße, der uns unbekannt.
Hinter diesem stillen Waldfriedhof lag Schloß und Park in einsamer Ruh. Idyllisch und friedlich sah's da aus. In glattgeschnittenen Pyramiden standen die kunstvoll beschnittenen Bäume, und vor dichten, dunklen Zypressen und Tannen leuchteten üppige weiße Marmorvasen.
Ein frischer Wind hatte sich aufgemacht, und über L. standen silbergerändert dunkle, massige Wolken, die Pappeln schüttelten und bogen sich, wir mußten heim. Durch die Zuckerrübenfelder, das vorjährige Kraut war fast mannshoch geworden, bahnten wir uns mühsam einen Abschneideweg, und dann zogen wir singend Arm in Arm die Landstraße nach A. entlang.


  1. Möglicherweise Péronne an der Somme.
  2. Aus dem Folgenden ergibt sich, dass es sich um die Gemeinde Chaulnes südwestlich von Péronne handelt.
  3. Das 1914 zu Österreich-Ungarn gehörende westukrainische Lemberg wurde im August 1914 von russischen Truppen besetzt und am 22. Juni 1915 von Truppen der Mittelmächte zurückerobert.
  4. Der in Chaulnes geborene Latinist und Romanist Charles-François Lhomond (1727-1794).
  5. D.h. ein Angehöriger des in Mainz stationierten Infanterie-Regiment Nr. 117.

Persons: Fischmann, Wilhelm · Lhomond, Charles-François · Napoléon III., Frankreich, Kaiser
Places: Kassel · Wilhelmshöhe · Lemberg · Chaulnes · Péronne · Österreich-Ungarn · Mainz
Keywords: Laufgräben · Leutnante · Münchener Bier · Bier · Infanterie · Schützengräben · Franzosen · Fesselballons · Zivilbevölkerung · Soldatengräber · Zerstörungen · Infanterie-Regiment Nr. 117
Recommended Citation: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 35: Wanderung nach Chaulnes“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/164-35> (aufgerufen am 06.05.2024)