Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 7: Vermessungsarbeiten an der Front

[123-124]

30. März 1915. Heute habe ich meine Feuertaufe erhalten! Granat- und Infanteriefeuer wurde auf uns abgegeben.
Ich muß unsere Stellung ausmessen. Morgens um ½ 6 Uhr fahren wir im Auto nach Vermandovillers zur Besichtigung der Stellung.
Zu unserm Schützengraben führt eine von Pionieren angelegte 4 km lange, 3 m hohe und etwa 0,80 m breite Schlucht, die in dauernden Schlangenlinien sich teilweise durch die Grundmauern von Häusern durch den „Sternwald" zur Stellung windet. Und hier sah ich zum ersten Male unser Arbeitsbereich für lange Zeit, den mir uneinnehmbar erscheinenden, etwa 2 ½ - 3 m tiefen Schützengraben. Es herrscht ein ziemlich ruhiger und gemütlicher Betrieb hier. Die Leute liegen in ihren Unterständen und sonnen sich, auf den Ofen dampft ihr Essen, viele lesen oder schreiben und rauchen ihr Pfeifchen dabei. Nur Posten halten durch ihren Ausguckschlitz Ausschau nach dem 80-300 m entfernt liegenden ruhigen Feind. Hin und wieder hallt ein Schuß oder ein Flieger (englisch) gibt der Mannschaft Unterhaltung. Ein Schrapnell nach dem andern platzt dicht um ihn herum, aber trotzdem täglich ungezählte Schüsse auf ihn abgegeben werden, trifft ihn keiner.
Leutnant Sch. und ich besichtigen allein die Stellung. Um uns zu orientieren, schauen wir über die Brustwehr. Aber da geht auch schon das Geknatter los. Ssssss sausen und pfeifen die Kugeln um uns herum und knallen beim Aufschlag. Man muß doch höllisch vorsichtig sein. — Von 11 bis 12 Uhr ist Schießstunde, da wird eine Stunde in die Luft geknallt, denn unsere tiefen Gräben geben gegen Infanteriefeuer völlige Deckung.
Mittags sind wir heim. Wir irrten uns hierbei im Laufgraben und waren gezwungen, über die freie, völlig ungeschützte Straße des zusammengeschossenen Dorfes Vermandovillers1 zu laufen. Hierbei waren wir gesehen. Wir wurden von Granaten überschüttet. Eine kam nach der andern heulend über uns weggesaust, aber sie schossen Gott sei Dank zu weit. Eine explodierte etwa 70 Meter vor uns. Das machte uns doch etwas beklommen, wir krochen für einige Zeit in einen bombensicheren Unterstand.

Den 31. März [1915] verbrachte ich im Schützengraben mit der Ausmessung der Stellungen. Hierbei sah ich auch vor unserer Front im Drahthindernis den ersten toten Franzosen liegen, der bei einem nächtlichen Versuch, unsere Hindernisse zu beseitigen, abgeschossen wurde.
Wie immer fanden Infanterie- und Artilleriekämpfe statt, aber wie schnell gewöhnt man sich doch an das Surren und Pfeifen der Infanteriegeschosse, Granaten und Schrapnells. Es trifft hier ja doch kein Geschoß.
Ich habe 1 ½ km ausgemessen, die ich abends und nachts kartieren mußte, da die Division auf Ablieferung der Zeichnungen drängte. Ich habe die ganze Nacht durch bis zum andern Morgen um ½ 6 Uhr bei Kerzenlicht gearbeitet, um mich herum liefen 15 bis 20 Mäuse, sprangen und piepten und liefen dann wieder in unser Lager, das ich mit den Kanzleischreibern teile. Mein Lager in der Küche hatte man mir nämlich gestern fortgeräumt, und als ich abends hundemüde aus Péronne zurückkam, mußte ich der Not gehorchend mit dem Zahlmeister auf einer Matratze unter dünner Decke schlafen.
Am Karfreitag bin ich nicht in Stellung gewesen. Ich habe unsere Quartiere in Ablaincourt aufgemessen und den Nachmittag im Schloßpark verbummelt. Wie schön ist doch so ein Frühlingstag! Ich habe mich ins Gras gelegt und den Arbeiten unserer Pioniere an der Dampfkreissäge zugeschaut. [S. 124]
Im Schützengraben ist heute ein Kamerad von der Infanterie verblutet. Eine Infanteriekugel hat ihm einen jähen Tod gegeben. Und über unseren Gräben warf ein englischer Flieger Zettel herab: „Kameraden! Die größte und wichtigste Festung Österreichs, Przemysl, ist gefallen. Wir machten 3 Generäle, 3000 Offiziere und 130 000 Mann zu Gefangenen. Die Festung hat sich bedingungslos ergeben. Kameraden, die Stunde der Entscheidung naht!" — Aber sicher, wir werden das Rennen bald machen! Der meinte, wir seien in Rußland, das war uns alles längst bekannt, es ist uns nur ein Grund mehr, doppelt drauf zu gehen.
Jetzt ist's Karfreitag-Mitternacht. Ich habe bis jetzt an den Zeichnungen arbeiten müssen, während draußen die Kanonen donnerten, daß die Fenster klirrten. Es ist eine unheimliche dunkle Nacht.
Ich war soeben beim Oberleutnant unten. Das Generalkommando verlangt bis morgen Vormittag Zeichnungen von den zweiten und dritten Stellungen. Da muß ich um 5 Uhr schon raus in diese wenig geschützten Gräben. Es ist nur eine kurz bemessene Zeit, man muß Unmögliches möglich machen.


  1. Vermandovillers, Ort etwa 3 km westlich Ablaincourt.

Persons: Fischmann, Wilhelm
Places: Vermandovillers · Péronne · Ablaincourt
Keywords: Granatfeuer · Infanteriefeuer · Vermessungsarbeiten · Schützengräben · Pioniere · Flugzeuge · Schrapnells · Leutnante · Leichen · Infanterie · Artillerie · Granaten · Mäuseplage · Pioniere · Flugblätter · Flubblattpropaganda · Engländer · Frontabschnitt: Somme · Westfront
Recommended Citation: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 7: Vermessungsarbeiten an der Front“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/164-7> (aufgerufen am 24.04.2024)