Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915

Abschnitt 4: Weiterfahrt von Tournai nach Lille

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Um 10 Uhr sagen wir Tournai Lebewohl. Wir fahren durch ein weites Flachland. Auf den Äckern zieht der Pflug schon wieder seine Linien, alles ist wieder bestellt, und das Bild des Krieges, der hier hart getobt hat, wie uns die einzelnen deutschen und französischen Schützengräben noch zeigen, ist fast gänzlich verwischt.
Gegen Mittag kamen wir in Lille an. Wir wurden mit Gerstensuppe und jungen Erbsen gut verpflegt, und dann ging's hinein in das sehnlichst erwartete Lille.
Wahrlich, hier bot sich uns das wahre Gesicht des Krieges. Ganze Stadtviertel und Straßenzüge lagen in Trümmer. Gleich zur Rechten des Nordbahnhofs sah man nichts wie Berge von Steinen, aus denen die eisernen Träger herausragten, aber aus diesem Schutt erhob sich unversehrt die herrliche große gotische Kirche. — Wir machten geschlossen einen mehrstündigen Rundgang durch die Stadt. Dieses 300 000 Einwohner zählende Nest hat uns sehr enttäuscht, in einem häßlicheren und geschmackloseren Baustil, sofern man von einem solchen überhaupt reden kann, konnte es nicht gebaut werden.
Lille ist sehr stark entvölkert, und die Bevölkerung, die zurückgeblieben ist, gehört den ärmeren Klassen an, oder es sind Weiber, die in den auffälligsten Seidenkleidern mit geschminkten Gesichtern in den Straßen herumlaufen.
Wir sind an der Universität, einem geschmacklosen Backsteinkasten, am Pasteur-Denkmal, an der in der Sonne glitzernden vergoldeten Jeanne d'Arc, die man auf einen sehr häßlichen Platz gestellt hat, an der Prächtigen „Porte de Paris" vorbeigelaufen, wirklichen Eindruck hat nichts auf uns gemacht, sofern es nicht die Porte de Paris wäre. Tournai ist uns allen entschieden lieber gewesen. Wir sind nicht böse, als wir wieder im Zuge sitzen und unserm Ziele St. Amand1 näher kommen. Es ist nur eine kurze Reise. Dann ging's gleich in unser Quartier, ein katholisches geistliches Mädchenseminar, wo uns unsere Quartiermacher bereits in den Sälen auf dem Fußboden Strohlager hergerichtet hatten.
Vor unserm Schlafengehen galt unser erster Gang diesem 14 000 Einwohner zählenden Schmutznest, aber es verlohnt sich wirklich nicht, den Ort zu beschreiben. Es reiht sich ein armseliger, schmutziger Backsteinkasten an den andern, aber aus diesem Elend erhebt sich stolz der prächtige „Turm", der natürlich vom Klerus gebaut worden ist. — Und schmutzig wie die Häuser sind diese aufsässigen und unverschämten Bewohner, die sich trotz Krieg nicht unterkriegen lassen. Hier muß man der Bande immer noch ab und zu mit dem Revolver unter der Nase herumfuchteln, damit sie pariert. Als wir ihnen abends mehrere Eimer unseres guten Essens anbieten, gibt es hier doch fast nichts mehr und das wenige zu unerschwinglichen Preisen, da weisen die keifenden Männer und Weiber es zurück: „Wir haben es nicht nötig, von deutschen Soldaten etwas anzunehmen", trotzdem der Hunger aus ihren Augen schaut. Wir haben es den hungernden Kindern gegeben, die sich freuten, etwas Warmes zu bekommen. Immer höhnisch trotz Not und unserer Güte!


  1. Saint-Amand-les-Eaux, französische Kleinstadt südöstlich von Lille.

Persons: Fischmann, Wilhelm
Places: Tournai · Lille · Saint-Amand
Keywords: Schützengräben · Truppenverpflegung · Kriegszerstörungen · Zivilbevölkerung · Prostituierte · Universitäten · Pasteur-Denkmal · Jeanne d'Arc-Denkmal · Revolver · Kinder · Hunger · Westfront · Frontabschnitt: Nordfrankreich
Recommended Citation: „Wilhelm Fischmann, Kriegserlebnisse eines Kasselaners, 1915, Abschnitt 4: Weiterfahrt von Tournai nach Lille“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/164-4> (aufgerufen am 16.04.2024)