Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Karl Rühl, Auszug und erste Kriegswochen des Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 116 aus Darmstadt und Gießen, 1914

Abschnitt 6: Aufenthalt in Sedan, Vorrücken an die Marne

[15-17]
In Sedan waren 7. und 8. Komp. in der Macdonald-Kaserne, 5. Komp. und Bataillonsstab in der Faberkaserne untergebracht worden. [S. 16] Der 29.8. vergeht mit Haussuchungen nach Waffen, Sicherung der wichtigsten Gebäude der Stadt und der aus der Stadt führenden Straßen. Am 30.8. gegen Abend trifft in der Faberkaserne ein Transport von etwa 150 Gefangenen mit einigen Offizieren ein. Gegen 8.00 abends marschieren Ersatz des Regiments 118 und Bagagen anderer Regimenter in den Kasernenhof. Gegen 8.45 nachm. fällt aus einem Haus gegenüber der Ostecke der Kaserne ein Schuß auf einen dort patrouillierenden Posten. Im gleichen Augenblick greift das Feuer auf die angrenzenden Häuser über. Der Führer der alarmierten 5. Komp. befiehlt sofort einen Zug zum Absuchen der Kaserne, einen Zug zum Säubern der Häuser, den Rest zu seiner Verfügung. Das Feuer wird von deutscher Seite aufgenommen; in der Dunkelheit läßt es sich nicht vermeiden, daß in der Nervosität der ersten Kriegszeit die Truppen sich gegenseitig beschießen. Selbst das tatkräftige Eingreifen der Führer war nicht sofort von Erfolg begleitet. Einer der gefangenen Offiziere, der beim Einsetzen des Feuers austreten wollte, entwischt dem ihm begleitenden Posten. Fast gleichzeitig wird die Kaserne von allen Seiten regelrecht beschossen. Das Feuer nimmt an Heftigkeit zu, wird von deutscher Seite stark erwidert. Nach etwa ½ Stunde flaut es nach und nach ab; zwei Leute fallen, Vzfw. Stein (5. Komp.) wird durch Schrotschuß am Oberschenkel verwundet, einige Pferde des Transport-Kommandos werden verwundet, bezw. getötet. Das Absuchen der Kaserne und der Ställe zeitigte zwar kein Ergebnis, doch bewiesen französische Kupfergeschosse, die am andern Tag in den Außenwänden der Kaserne gefunden wurden, unwiderleglich, daß auch französische Infanteriegewehre am Kampfe beteiligt waren. Der kurz vor dem Abflauen des Schießens auf der Flucht ertappte Hauptmann wird, da die Aussagen verschiedener Mannschaften des Transport- und des Wachkommandos schwer belastend für ihn sind, wegen Aufreizung zum Widerstand und Fluchtversuch zum Tode verurteilt und an der Kasernenwache sofort erschossen. Daß es sich bei der nächtlichen Schießerei um einen Versuch — allerdings einen sehr kurzsichtigen — der Gefangenenbefreiung handelte, muß als sicher angenommen werden. Der Stadt Sedan wird auf Grund des Vorfalls eine Kontribution von 500 000 Franken auferlegt, sämtliche männliche Personen in der Nähe der Kaserne werden als Geiseln festgenommen, nach zwei Tagen aber wieder entlassen, zwei Häuser, aus denen festgestelltermaßen Schüsse gefallen sind, zur Strafe zerstört.

Am 2.9. rückt das Detachement Beroldingen in der angegebenen Zusammensetzung (ohne 6. und 8./L. 116, letztere am 3.9. zum Bataillon [S. 17] stoßend) aus Sedan ab. Es marschiert an dem Schlößchen Bellevue vorbei, in dem vor 44 Jahren die Kapitulation von Sedan durch Napoleon unterzeichnet wurde. Eigenartige, stolze Gefühle sind es, die das Herz des Landwehrmannes bei diesem Anblick bewegen. In der Nacht beziehen I. und II. O-U. in Chémery und marschieren am 3.9. weiter nach Le Chesne, wo weitere Befehle erwartet werden.

Am 2.9. tritt III. (9., 10. und 12. Komp.) den Weitermarsch nach Stonne an, 11. Komp. bleibt zur Verfügung des Etappenkommandos in Mouzon. Am 3. 9. ist Ruhetag. Die 11. Komp. marschiert an diesem Tage nach les Grandes Armoises und schließt sich im Laufe des 4. 9. dem Bataillon an, das mit drei Kompagnien in Quatre Champs, einer Kompagnie (11.) in Vallay untergebrocht wird. Am 5.9. 5.30 vorm. wird der Weitermarsch über Vouziers—Monthois nach Manre angetreten und die Nacht zu ½ in Manre, zu ½ in Aure zugebracht. Am 4. 9. erreicht I. le Chestres, II. Vouziers, am 5.9. I. Monthois, II. Somme-Py, beide Bataillone noch im Verbände des Detachements Beroldingen; am 6.9. gelangt I. über Somme-Py nach Suippes, II. über Souain— Suippes nach Bussy-le-Château, III. über Tahure—Perthes nach Suippes. In den zuletzt genannten Orten wird Unterkunft bezogen. Die Vormarschstraßen waren überall deutlich gekennzeichnet durch unheimliche Massen von Weinflaschen, die von den zurückgehenden Franzosen und den sie verfolgenden Deutschen geleert worden waren. Am 7.9. sammelt sich die 49. gemischte Landw. Brig. bei Marson; zugeteilt werden noch eine Landw.-Batterie des F.A.R. 25 und einige Eskadronen des Ldw.-Jägerregiments z. Pf. Nr. 2. Vor der Brigade tobt der Geschützdonner der Schlacht am Rhein—Marne-Kanal. Die Brigade untersteht dem A.O.K. 4 und tritt am 8. 9. unter den Befehl des VIII. R.K.


Persons: Rühl, Karl · Stein, Virzefeldwebel · Napoleon III., Franreich, König
Places: Sedan · Bellevue, Schloss · Chémery · Le Chesne · Stonne · Mouzon · Les Grandes Armoises · Quatre Champs · Vallay · Vouziers · Monthois · Manre · Aure · Somme-Py · Suippes · Souain · Bussy-le-Château · Tahure · Perthes · Marson · Rhein-Marne-Kanal
Keywords: Landwehr Infanterie-Regiment Nr. 116 · Kasernen · Haussuchungen · Waffen · Kriegsgefangene · Offiziere · Franktireurs · Gefallene · Verwundete · Pferde · Kriegsgräuel · Erschießungen · Geiseln · Geiselnahme · Geschützdonner
Recommended Citation: „Karl Rühl, Auszug und erste Kriegswochen des Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 116 aus Darmstadt und Gießen, 1914, Abschnitt 6: Aufenthalt in Sedan, Vorrücken an die Marne“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/112-6> (aufgerufen am 26.04.2024)