Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 5: Abfahrt aus Metz nach Kassel

[11-12] Von Metz bis Cassel.

Langsam schlenderte der Zug über Pelter, Hargarten, nach Saarbrücken. Als das Brevier gebetet war, versuchte ich Bekanntschaft mit meinen neuen Pfarrkindern zu machen. Wenn die Zukunft nicht so ungewiß vor mir geschwebt hätte, wäre ich beinahe stolz geworden, zählte doch meine Pfarrei mindestens 12.000 Seelen. Ein evangelischer Pfarrer hat mir seine Schäflein auch anvertraut. Die moderne Seelsorge verlangt in den großen Pfarreien vor allem Hausagitation. Ich kletterte denn von Wagen zu Wagen. Es waren meist Leute aus Queuleu in diesem Zug. Mit Freuden begrüßte mich die Familie X. Vor Jahresfrist hatte mich das Jugendgericht zum Pfleger aller Kinder ernannt. Aus Furcht vor angedrohten Zwangserziehung war die Familie damals nach Frankreich entflohen. Jetzt ist sie abermals meiner besonderen Obhut übergeben worden.

In Saarbrücken fand geistige und körperliche „Abfütterung" statt. Damen spendeten Suppe, Schinkenbrote und Milch. Ein junger Leutnant stand mit einem großen Löffel vor einer Riesenschüssel und verteilte, so flink sich die Arme nur bewegen konnten, Teller um Teller. Einige junge Leute verschenkten die „Saarpost" in mehreren hundert Exemplaren. Nochmals allen Saarbrückern Gebern vielen Dank! In Neunkirchen wetteiferten die guten Damen untereinander, um uns ja [S. 12] recht gut zu verpflegen. Als etwas Milch für ein kleines Büblein von drei Wochen verlangt wurde, erstürmte eine Dame ein beim Bahnhof gelegenes Haus und atemlos brachte sie etwas Milch. „Ach, Hochwürden, mehr konnte die Geiß in der Eile nicht geben," keuchte sie, und dicke Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn.

Ein Pfiff der Lokomotive und weiter gings in die dunkle Nacht hinein. Die Sterne huschten hinter den Wolken hervor, der Mond grüßte uns mit seinem freundlichen Gesicht. Wir beteten den Rosenkranz, das Nachtgebet; dann lautloses Stillschweigen; alle sollten schlafen. Den Kleinen wollten aber die Augen nicht zufallen; die meisten waren in ihrem Leben noch nie im Zug; sie freuten sich zu sehr, endlich mal so lange sich fahren lassen zu dürfen. Nervös rutschten sie hin und her. An meiner Seite saß ein junges Ding, Johanna mit Namen, zuerst etwas schüchtern; nach und nach aber zeigte sie ihr Herz. Sie hatte keinen Papa, nur eine Mama. Die war aber sehr leichtsinnig, hat das ganze Vermögen verschwendet, dann mußte die Frucht ihrer Sünde ins Waisenhaus. Einmal kam Johanna zu Verwandten; da wars aber traurig; immer nur Leid und Elend; dazu sei sie immer krank; o, sie wurde so gerne sterben! Eine Viertelstunde plauderte das arme Ding in einem fort; die Augen fielen ihr zu; das Köpfchen ruhte an meiner Schulter: ein sanfter Schlaf entrückte sie der rauhen Wirklichkeit. Ich wagte mich kaum zu rühren, um ja die Unglückliche in ihren Träumen nicht zu stören.


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 5: Abfahrt aus Metz nach Kassel“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-5> (aufgerufen am 16.04.2024)