Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 9: Abschnitt 9

Gegen 10 Uhr kam ich ins Bett, aber schon eine Stunde später rief mich ein Stöhnen ins Nebenzimmer. Drei der Waisenkinder waren krank geworden, kein Wunder; eine so lange Reise, ungewohntes Essen, Übermüdigkeit hatten die Kleinen erschlafft. Die ganze Nacht spielte ich den Krankenwärter. Eine hatte stets Leibweh, belegte Zunge, Diarrhö, Fieber — Typhus, dachte ich. Schon sehr früh kam der Arzt. Es war gottlob nicht so schlimm.

Die gute Oberin des Krankenhauses St. Elisabeth nahm alle Waisenkinder und ließ sie bis zu unserer Abreise bestens verpflegen.

Um 9 Uhr war ich im Rathaus. Von hier fuhren wir mit einigen Herren per Auto ins Oberpräsidium, wo sich der Oberpräsident, der Polizeipräsident, der Polizeiinspektor, der Oberbürgermeister und einige andere Herren bereits eingefunden hatten. Zuerst wurde die Geschichte der Metzer Abwanderer besprochen. Im Oberpräsidium wußte man nur, daß einige Tausend Metzer [S. ] Bürger in das südliche Hessen verbracht werden sollten. Seit acht Tagen sei dort alles aufs beste vorbereitet. Unbegreiflicherweise seien in der Nacht von Donnerstag auf Freitag Züge in Cassel eingelaufen. Den ersten Zug ließ man weiter nach Hannover fahren. Dort verweigert, fuhr er wieder nach Cassel zurück, wo unterdessen noch zwei weitere Züge angekommen waren. Der Oberbürgermeister von Cassel habe sich dann der armen Leute erbarmt und sie aufgenommen. Nun müßten möglichst schnell die Metzer aus den Notquartieren in die Stadt und auf das Land gebracht werden. Nach einer einstündigen Beratung, wobei auch alle meine Wünsche Berücksichtigung fanden, gingen wir auseinander. Mir war ein Stein vom Herzen gefallen. Die Behörde war sichtlich bestrebt, unser trauriges Los nach Möglichkeit zu lindern.

Sämtliche Casseler Zeitungen empfahlen die Metzer der Gastfreundschaft aller Mitbürger.

Am Philosophenweg war folgendes angeschlagen:

Der Bezirksverein Südend rechnet es sich als hohe Ehre an, zur Linderung der Not unserer Metzer Landsleute beitragen zu können. Der Vorstand dankt allen, die sich an dem Liebeswerk beteiligten und fordert zur weiteren Hülfeleistung auf. Es ist die Pflicht unseres Stadtviertels, den Anforderungen, die der Krieg an uns stellt, gerecht zu werden, und unser Stadtviertel wird die ihm zugefallene Aufgabe gern erfüllen. Zeigen wir den Hülfbedürftigen, daß kein Deutscher in Deutschland Not zu leiden braucht.

Cassel, den 21. August 1914.

Der Vorstand.


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 9: Abschnitt 9“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-9> (aufgerufen am 28.03.2024)