Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 10: Abschnitt 10

Nun war die Casseler Bevölkerung wie umgewandelt. Liebesgaben kamen übergenug, sogar Gebäck, Schokolade... Die Frau Oberbürgermeister und andere hochstehende Damen taten ihr Menschenmöglichstes. Ich warnte vor einer Verhätschelung. Die Zukunft gab mir Recht. Manche Dame zog sich zurück. Die minderwertigen Metzer Elemente schadeten sich selbst sowie ihren Landsleuten und haben zum Teil unsern guten Ruf in Mißkredit gebracht.

Große Sorge bereiteten uns die Metzer, welche in der Hedwigschule „schmachteten". Es waren die „politisch verdächtigen Personen", etwa 500 an der Zahl. Infolge des tollen Durcheinanders am Metzer Bahnhof waren aber leider, wie ich später erfuhr, fast nur gute Elemente in diese Schule gekommen, während sich sehr zweifelhafte unter die ändern gemengt hatten. Als ich zum erstenmal in die Hedwigschule kam, hätte ich weinen mögen. Fast alle waren mir persönlich bekannt. Vor der Schule standen zuerst Polizisten, später Militär als Wache. In jedem Gang ebenfalls ein Soldat. Niemand durfte ohne Erlaubnis die Zimmer verlassen. Wer auf den Hof wollte, mußte an die Tür anklopfen, wurde dann, von einem Soldat begleitet, zu dem diesbezüglichen Häuschen geführt und dann wieder von dem Soldaten zurückbegleitet. Welch eine Freude, als die Leute meiner ansichtig wurden! Bald war ich umringt. Bitten, Weinen, Flehen, Schimpfen, Toben, Protestieren, je nach der Gemütsverfassung der Einzelnen. Ich ging von Zimmer zu Zimmer, klärte das Mißverständnis aus und verkündete baldige Befreiung. Nach einer kurzen Beratung mit der Behörde stand bald fest, daß mit verschwindend wenigen Ausnahmen die Metzer in Stadtquartiere untergebracht werden können.

Bald zog die lästige Wache ab, freier Spaziergang in die Stadt wurde bewilligt, und ein besseres Essen linderte die große Not.

„Herr Pfarrer," sagte mir am Abend der Polizeikommissar, „jetzt müssen wir noch in die Turnhalle. Dort sind die „Minenleger". — „Die Minenleger? Sind das auch Metzer?" — „Es scheint. Die sollen Brücken und Tunellen gesprengt haben". Ich schüttelte ungläubig das Haupt. Welch ein Bild in dieser Turnhalle! Auf Stroh lagen 60 bis 70 Männer und Jünglinge, meist Italiener. Äußerlich sahen die Leute geradezu gefährlich aus. Langes struppiges Haar, seit einigen Wochen unrasiert, nur mit Hemd, Hosen, Strümpfen und Schlappen bekleidet. Wie leuchteten die Augen, als in französischer und italienischer Sprache baldige Befreiung verkündet wurde! Manche küßten mir die Hand vor Rührung. Einer erzählte die Geschichte ihrer Verhaftung. Die Italiener haben bei Longwy in den Eisenerzgruben gearbeitet und sind am Anfang des Krieges von deutschen Soldaten in dem Augenblick verhaftet worden, als sie aus der Grube fuhren. Kleider, Vermögen, Frau und Kinder sind noch in Frankreich. Man hat sie dann nach Metz gebracht, dort ins Gefängnis geworfen und schließlich hierher nach Cassel abgeschoben. Einer der jungen Herren, die die Personalaufnahmen vorgenvmmen hatten, fragte die Italiener in gebrochenem Französisch nach ihrer Profession. Das Wort „mineur", d. h. Bergmann, wurde dann als „Minenleger" resp. Brücken- und Tunellsprenger übersetzt. Nun, Cassel zeigte sich nobel. Alle bekamen Kleider und Schuhe. Tags drauf fuhren sie über Frankfurt, München nach Italien. In der ausländischen Presse verbreitete sich das Gerücht, vierzehn, dieser Italiener seien in Cassel erschossen worden, nachdem sie zuvor ihr eigenes Grab gegraben hätten. Eine plumpe Verleumdung. Des öftern haben sich diese Italiener über die äußerst gute Behandlung, die die Casseler Behörde ihnen angedeihen ließen, bei mir bedankt. Noch von Mailand aus schrieben sie an einen in Metz wohnenden italienischen Geistlichen, daß sie gut angekommen wären und bedankten sich abermals über die gute Pflege die sie unterwegs gefunden hatten.

Nachdem die Personalien der Metzer festgestellt waren, begann die Ausguartierung. Diese Arbeit dauerte in der Kaserne resp. in den Schulen von morgens 7 bis abends 8 ununterbrochen an. An das Breviergebet konnte nicht gedacht werden. Zuerst ließen die Arzte unverzüglich eine Anzahl Säuglinge entfernen, da Brechdurchfall festgestellt wurde. Das war ein Geheul und ein Gewinsel der Mütter! Ein unsinniges Weib hatte das Gerücht verbreitet, daß alle Kinder getötet würden. Nur mit Mühe gelang es meinen Beteuerungen, die aufgeregten Frauen vom Gegenteil zu überzeugen. Die Kinder fanden in den Diakonissinnennnstalten eine Pflege, wie sie die eigenen Mütter sie nicht besser hätten geben können.


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 10: Abschnitt 10“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-10> (aufgerufen am 29.04.2024)