Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 13: Abschnitt 13

Eine freundliche Einladung des katholischen Vinzenzvereins nahm ich dankend an. Nach eingehender Erörterung der Metzer Abwandererfrage wurde in der Versammlung beschlossen, den armen Müttern und Säuglingen kostenlos Milch zu übergeben.

Sonntags war für die Metzer in zwei Kirchen Gottesdienst mit Predigt in den beiden Sprachen. Die Gotteshäuser waren stets überfüllt. Die Tränen flossen reichlich, als uns Maria als Beispiel vor Augen geführt wurde. Dreimal hatte auch sie Zwangsreisen unternehmen müssen, einmal von Nazareth nach Jerusalem, von da nach Ägypten und die kurze, aber leidenslange Reise von Jerusalem zum Kalvarienberg —

Sonntags nachmittags sah ich mir Cassel etwas näher an. Geschichtlich ist Cassel eine berühmte Stadt. Schon 913 wohnten die deutschen Königs zeitweise in Chassal. Otto I. hielt 945 hier eine Tagssitzung ab. 1143 erstand an der Stelle der heutigen Wilhelmshöhe ein Mönchskloster. 1247 fiel Cassel an den Enkel der Hl. Elisabeth. 1385 und 1387 wurde die Stadt zweimal von den Truppen des Erzbischofs von Mainz vergeblich belagert. 1526 führte Philipp der Großmütige hier den Protestantismus ein und hob sämtliche Klöster auf. Um 1650 zählte Cassel etwa 10.000 Einwohner. Landgraf Carl schuf um 1700 die Karlsaue, ein schöner Platz, unserer Esplanade ähnlich, und einen Teil der Wilhelmshöhe, ein großartiges Schloß mit herrlicher Parkanlage. 1685 kamen viele vertriebene französische Protestanten nach Cassel. Im siebenjährigen Krieg wurde Cassel vier mal von den Franzosen belagert. Die Stadt verarmte sehr. Zur Zeit Napoleons floh der Kurfürst nach Dänemark, die Franzosen hielten ihren Einzug in die Stadt und ermordeten viele vornehme Bürger. Cassel war jetzt die Hauptstadt des französischen Königsreichs Westfalen. Hier residierte König Jerome, den man wegen seines üppigen Lebenswandels den König „Lustik" nannte. Wilhelmshöhe hieß jetzt Napoleonshöhe. 1813 flatterte wieder die hessische Fahne über Cassel. Der letzte Kurfürst war Friedrich Wilhelm, der sein Land 1866 an Preußen verlor. Während des Krieges 1870 lebte Napoleon III. einige Monate in der Gefangenschaft auf der Wilhelmshöhe. Unser jetziger Kaiser studierte am Casseler Friedrich-Gymnasium. Die Stadt zählt jetzt etwa 160.000 Einwohner. Sehenswert ist das Marmorbad, einige Museen, die protestantische Martins- und die katholische Elisabethkirche, die Landesbibliothek, das Rathaus, die Karlsaue und vor allem die Wilhelmshöhe mit den herrlichen Wasseranlagen.


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 13: Abschnitt 13“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-13> (aufgerufen am 16.05.2024)