Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 7: Erste Kontakte mit Verwantwortlichen in Kassel

[13-14] In Cassel.

Nach einem frugalen Mittagessen eilte ich zum Polizeipräsidium, um mir weitere Ausweispapiere zu besorgen. Nach vielem Hin- und Herfragen stand fest, daß die „Elsässer" (so hießen wir in Cassel) in drei Anstalten untergebracht seien. In der großen Stadtkaserne an der Westendstraße wären 1000, und je 500 in den Schulen der Hedwigstraße und am Philvsophenweg. Zuerst gings zur Stadtkaserne; ein mächtiges Gebäude, das gewisse Ähnlichkeiten mit unserm Priesterseminar der Asfeldstraße hat. Der französische König Jero^me hatte sie erbauen lassen. Was meine Augen nun hier sahen, kann kaum geschildert werden. Schon als ich längst des Hauses schritt, riefen mir die Metzer aus den Fenstern zu: „Na, da haben Sie uns ja in ein schönes Nest gebracht! Wir laufen fort, da bleiben wir nicht! Ist das der freundliche Empfang?" So ziemlich alle waren entrüstet, ich auch. Es gelang mir nur mit Mühe, mich die Treppe hinaufzuarbeiten. Das war ein Gedränge! Die einen stiegen hinab, die andern hinauf. Die Kinder weinten laut, die Frauen schluchzten, die Männer fluchten und schimpften wie die Korbflechter. Ich sah bessere Leute, arme Leute, brave Leute, verkommene Leute, ja sehr schlechte Leute.... Greise von 80 Jahren, alte Frauen mit Krücken, zwei Blinde, Mütter mit zwei Kindern in den Armen, eins am Rock, junge lebendige Backfische, deren schmutzige Blusen früher einmal weiß und gelb waren, junge kräftige Kerle von 18, 20 Jahren, die einen sprachen deutsch, die andern konnten nur französisch, manche nur italienisch, Katholiken, Protestanten, Juden, alles kunterbunt durcheinander. Dazwischen huschten Ärzte aus [S. 14] Cassel, die bald hierhin, bald dorthin gerufen wurden, Diakonissinnen, Damen vom roten Kreuz, die ihr Möglichstes zur Linderung des namenlosen Elendes taten, ein Wirrwarr wie zur Zeit des Turmbaues zu Babel. Mitten drin huschte der Kaplan mit seinem langen, schwarzen Rock. Man stellte mir Fragen, man schimpfte, jammerte . . . Rat- und tatlos stand ich da. Es war zum Weinen und doch auch zum Lachen, tragisch-komisch.

Da trafen mich die Waisenkinder. Sie reichten mir die Hände hilfesuchend entgegen. „Warum werden wir hier eingesperrt, was haben wir getan, was wird aus uns werden?; hier können wir nicht bleiben. Die Metzer Leute schimpfen noch über uns und über Sie, Herr Kaplan. Wie die fluchen! Welch häßliche Worte müssen wir hören!" — „Ihr geht heute mit mir in die Stadt," war die Antwort. Wie die Kleinen jetzt aufjubelten!

Ein vornehmer Herr mit schwarzem Vollbart stellte sich mir als Oberrabbiner von Cassel vor. Auf seinen Wunsch trommelte ich schnell die Israeliten zusammen, etwa 50 an der Zahl, die sofort von einigen Damen in die Stadt geführt wurden. Während ich noch mit den Metzer Israeliten plauderte, näherte sich mir ein jugend lich aussehender Herr. „Sie scheinen die Leute hier zu kennen," fragte er freundlich. — „Gewiß, es sind meine Landsleute." — „Das ist mir sehr angenehm. Ich bin der Oberbürgermeister von Cassel..."1. — „Aber, Herr Oberbürgermeister, hier können doch die Leute nicht bleiben!" — „Um Gotteswillen nicht, Herr Pfarrer. Für den Augenblick ist jedoch nichts zu ändern. Wir hatten nämlich keine Ahnung von der Ankunft der Metzer." — „Keine Ahnung? Ei, unser Bürgermeister von Metz sprach doch von einer freundlichen Aufnahme von seiten der Stadt Cassel." — „Ein Mißverständnis, Herr Pfarrer. Möchten Sie nicht morgen um 9 Uhr im Rathaus einer Besprechung beiwohnen?" — Zu gleicher Zeit machte ich auch Bekanntschaft mit Herrn Weber, Verkehrsdirektor der Stadt, der sich ebenfalls für uns Metzer große Verdienste erworben hat.

Erleichtert atmete ich auf. Die Behörde nahm sich meiner Leute so warm an. Da mußte es bald besser werden.


  1. Oberbürgermeister Erich Koch-Weser (1875-1944).

Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 7: Erste Kontakte mit Verwantwortlichen in Kassel“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-7> (aufgerufen am 24.04.2024)