Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 3: Widerstände gegen die Abfahrt aus Metz

[9-10] Das war eine Aufregung in der Stadt! Neue schreckliche Gerüchte. Man würde in Preußen erschossen werden, man käme in Arbeitshäuser . . . viele hätten lieber Selbstmord verübt, so und soviele wären in die Mosel gesprungen, andere wollten sich lieber aufhängen. Manche Frauen, besonders französisch sprechende, liefen wie wahnsinnig umher. Nun kamen Soldaten. Sie gingen von Straße zu Straße, von Haus zu Haus und verteilten Zettel mit der Aufforderung, zu einer bestimmten Stunde am Bahnhofe reisefertig zu erscheinen.

Man suchte die Kinder auf der Straße, packte eiligst ein paar Habseligkeiten zusammen, Tränen flossen in Strömen — ja, es war hart, Verwandte, Bekannte, Haus und Gut, die liebe Heimat so schnell zu verlassen; — dazu hatten die meisten sich für sechs, ja zwölf Monate verproviantiert; alles Geld war in Lebensmittel umgewandelt worden, und jetzt mußte auch all dies im Stich gelassen werden; man reiste ab; wohin? zu wem? wie wird es uns ergehen?

Mittwoch, den 19. August, wurde ich ins Bistum gerufen. Man bat mich, die abwandernden Metzer in die Fremde zu begleiten. Es wäre für die armen Leute ein großer Trost, einen ihrer Priester bei sich zu haben. Ohne Zögern willfahrte ich dem Wunsch meiner Vorgesetzten. Der Hochwürdigste Herr Generalvikar Dr. Pelt, Herr Bürgermeister Dr. Foret und das Kaiserliche Gouvernement übergaben mir die nötigen Ausweispapiere.

Bitter hart war am Donnerstag der Abschied von meinen alten Eltern. Mit einem schweren Koffer stand ich gegen neun Uhr am neuen Bahnhof. Kein Mensch da, und es sollten doch 9000 mit mir die Stadt verlassen. Man schickte mich zum alten Bahnhof, von hier wieder zum neuen; schließlich bat mich der Herr Bürgermeister, [S. 10] erst um zwölf Uhr mit einem Dutzend Waisenkindern abzureisen. Gegen Mittag begab ich mich wieder zum alten Bahnhof. Welch ein Bild des Jammers! Männer, Frauen, Kinder, Kinderwagen, mächtige Pakete, alles kunterbunt durcheinander. Nur traurige Gesichter, überall rotgeweinte Augen. Trostspendend ging ich von Gruppe zu Gruppe. „Aber, Herr Kaplan, Ihr Zug fährt ja in zehn Minuten ab!" rief mir ein städtischer Beamte zu. — „Nun, ich bin bereit." — „Dann laufen Sie schnell zum neuen Bahnhof! Hier ist nur die Sammelstelle für solche, die um zwei Uhr wegreisen."

Nun gings im Eilmarsch wieder zum neuen Bahnhof. Der Schweiß lief mir in dicken Perlen übers Gesicht. War das eine Lauferei! Obendrein wurde der pustende und keuchende Kaplan noch von einem nervösen Offizier etwas unsanft angeschnauzt: „Na, wo laufen denn Sie noch hin?" — „Ich soll mit den Leuten nach . . . na, nach, ja ich weiß ja selbst nicht, wohin die Reise geht." Eiligst lief ich längst des Zuges und gelangte schließlich zu einem Abteil zweiter Klasse, das für eine Klosterschwester, 11 Waisenkinder und mich reserviert blieb. Na, ich saß mal im Zug. Jetzt schon todmüde. Langsam fuhren wir ab. Wohin? Wann kommen wir wieder zurück? Werden wir überhaupt je wieder unser liebes Metz sehen?


[Bei Goldschmitt folgt das Gedicht "Nun soll ich in die Fremde ziehen!" von Clemens von Brentano]


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 3: Widerstände gegen die Abfahrt aus Metz“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-3> (aufgerufen am 26.04.2024)