Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 34: Im Kreis Kassel und Umgebung

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Im Kreise Cassel und Umgegend.

Ein Berg von Briefen erwartete mich seit drei Wochen in der Hauptstadt Hessens. Da war ein Mann, der verlangte die Adresse seiner Frau, eine Mutter hatte keine Ahnung von dem Aufenthaltsort ihrer Tochter, ja einer machte sich ernstlich Sorgen über das Befinden der lieben Schwiegermama. Sofort wurden sämtliche Schreiben beantwortet.

Am 23. September gab es rege Arbeit im Rathause. Von Metz waren unterdessen Herr Staatsanwalt Kremer, Herr Stadtbeamte Behren und Fräulein Hübsch nach Cassel gekommen, um die Interessen der Metzer Abwanderer zu vertreten. Die Erledigung dringender Korrespondenzen war die Hauptbeschäftigung des Tages.

Den 24. September verbrachte ich in den Spitälern, wo die französischen Verwundeten — 400 an der Zahl lagen. Wie freuten sich die Soldaten, als sie unerwartet [S. 55] Worte des Trostes und der Ermunterung in ihrer Muttersprache hörten! Da lag einer aus Südfrankreich, blind. Dreimal drückte er mir die Hand und bat um ein Gebet für sich, seine Frau und seine drei Kinder. Einige beichteten. Rührend war der Abschied von einem französischen schwerverwundeten Leutnant. „Schreiben Sie meiner Mutter nach Paris, daß ich als tapferer Franzose für mein Vaterland gestorben bin. Ich war stets ein gläubiger Katholik und will auch als solcher sterben. Eines aber rechne ich meinen Vorgesetzten als Verbrechen an. Sie haben uns die Deutschen als Barbaren geschildert, die alle Verwundeten meuchlings ermorden würden. Als mich die Kugel in Südbelgien traf, litt ich bohrende Seelenschmerzen. Kaum näherten sich deutsche Sanitäter, da glaubte ich, erdolcht zu werden; in der angebotenen Medizin wähnte ich, Gift zu erhalten... Wie ein Freund nahm man mich überall auf, und auch hier im Elisabethenspital könnte meine eigene Mutter mich nicht besser verpflegen". Der junge Mann starb einige Tage später.

Samstag, den 26. September lud mich das schöne Wetter zu einem Spaziergang nach Wellerode ein, wo sich die Metzer herzlich über meinen Besuch freuten. In Krumbach plauderten wir fast eine Stunde gemütlich miteinander, in Ochsenhausen traf ich manch altbekanntes Gesicht.

Sonntag, den 27. September, in Cassel Beichte am frühen Morgen in der Kirche zur Hl. Elisabeth, Predigt in der Kirche zur Hl. Familie, Messe und Predigt in der Kirche zur Gottesmutter, am Nachmittag, Bummel in der Stadt und am Abend, Vortrag im katholischen Gesellenverein.

Am Montag brachte mich der Zug in aller Herrgottsfrühe nach Zierenberg. Ein paar Metzerinnen weinten bittere Tränen. Hier war ein Kind gestorben, und ein anderes lag todkrank danieder. Aus lauter Verzweiflung wollten einige in die Mosel springen. Gottlob taten sie es nicht, sintemalen der Sprung bis zu dem 450 Kilometer entfernten heimatlichen Strom doch etwas zu gewagt gewesen wäre.


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 34: Im Kreis Kassel und Umgebung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-34> (aufgerufen am 07.05.2024)