Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 32: Von Lierschied über Reitzenhain zur Loreley

[51-52] Von Lierscheid sollte ich nach Raitzenhain wandern. Ein bejahrtes Mütterchen zeigte mir den kürzesten Weg. „Jetzt gehen Sie gerade Ihrer Nase nach durch den Wald, dann kommen Sie zu einer Straße, dann rechts, dann nach einer Weile wieder links, dann dem Weg nach, und in einer Stunde sind Sie dort". Ich ging gerade meiner Nase nach auf dem schmutzigen Feldweg den Berg hinunter und gelangte zu einer breiten Straße. Geht's nun bergab oder bergauf? Wenn ich mich da verirrte? Die Karte half mir aus der Verlegenheit. Soll ich umsonst zwei Semester Logik studiert haben? Folgende Schlußfolgerung sollte mich retten. „Das Wasser läuft berghinunter. Da im Tal fließt ein Bach. Raitzenhain liegt nach der Karte an der Quelle des Baches, ergo muß ich berghinan gehen!" Aber die Karte zeigt nur auf einer Seite des Baches Waldbestand! Und hier Bäume auf beiden Ufern. Das muß ein Druckfehler auf der Karte sein! Raitzenhain liegt an der Quelle des Baches, also muß ich berghinan gehen. Lange, lange dauerte der Marsch, und das Dorf kam noch nicht in Sicht. Es war halb zwölf. Der Magen brummte, die Beine grollten. In der Ferne ein Häuschen. Gottlob, wohl Raitzenhain. An dem Haus eine Inschrift Wasserwerk Bogel — o Schrecken! — ich war in der Nähe des Dorfes, von dem ich am morgen meine Reise angetreten hatte. „Klingklingkling" — das bekannte Läuten der Kleinbahn. Meine Augen schauten nach der Richtung, von der das Geräusch kam. Zuerst Rauch, dann die Maschine, das Züglein, das mich schon in Nastätten genäselt hatte. Warum ist der Zug nicht eher gekommen — nein, warum habe ich, statt mich in philosophische Syllogismen zu vertiefen, meine Auge nicht geöffnet? Die Telephonstangen hätten mir die Kleinbahn verraten, hätten mir gezeigt, daß ich nicht in dem Tal des Baches marschierte, an dessen Quelle [S. 52] mein Reiseziel lag. Geärgert habe ich mich schwarz und blau, geholfen hat's mir nichts. Linksum kehrt, marsch, wieder den Berg hinunter. Um ein Uhr lud eine Wirtschaft in der Nähe der Burg Reichenberg den müden Wanderer ein. „Liebe Frau. Heute haben wir Katholiken Frohnfasten. Trotzdem möchte ich ein warmes Mittagessen mit Fleisch. Eine beschwerliche Reise liegt hinter mir und ein saurer Weg vor mir. Seit sieben Uhr hat mein Magen keine Arbeit mehr". — „Wir haben nur Käs und Brot", war die kurze Antwort. Hat mir das schwarze Brot und der Käs geschmeckt! Die halbe Flasche Rheinwein belebte die müden Nerven von neuem. Bis Raitzenhain ein schöner Weg mitten im Walde. Leider war's entsetzlich schmutzig. In dem Dorf gefiel mir vor allem der Zwetschenkuchen. Gegessen habe ich keinen, nur gesehen, schauerlich groß, ein Rechteck, achtzig Zentimeter lang, vierzig breit, unglaublich, aber wahr.

Trotz aller bösen Erfahrungen ließ ich mich abermals verführen, statt der Straße nach, über Feldwege zu marschieren. Ich watete im Schmutz. Nach einigen Irrfahrten begrüßten mich einige Metzer auf der Lorelei. Ein herrlicher Ausblick vom Loreleifelsen aus!

[Text des Liedes „Ich weiß nicht was soll es bedeuten", hier nicht wiedergegeben.]

Ich weiß wohl, was soll es bedeuten, daß ich so müd und so schmutzig bin ... Der verdammte Weg von Bogel nach Auel hin und zurück und dieser Feldweg von Raitzenhain nach der Lorelei.

Die Müdigkeit kam mir eigentlich erst so recht zum Bewußtsein, als ich die Treppe hinunterstieg, um nach St. Goarshausen zu gelangen. Mein ganzes Knochengerüst schien zusammenstürzen zu wollen.

Endlich um halb fünf ein warmes Essen beim guten Herrn Pfarrer. Und nicht einmal das sollte ich ruhig und sorgenlos nehmen können. Allerhand Gerüchte schwirrten im Städtchen umher. Der Metzer Kaplan habe gegen den Kaiser gesprochen, reize die Leute aus —, sei vom Landrat verhaftet worden... Etwas schien gewiß nicht [S. 53] in Ordnung zu sein. Denn folgendes Schreiben hatte der Herr Bürgermeister an den Herrn Pfarrer geschickt:

„An Herrn Pfarrer Roth, Hier.
Ew. Hochwürden teile ich im Verlauf der Rücksprache von heute vormittag ergebenst mit, daß nach einem Schreiben des Herrn Oberpräsidenten die Metzer Zuwanderer unter den Bestimmungen des in der Stadt Metz herrschenden verschärften Belagerungszustandes stehen. Herr Geheimrat Berg, erwartet ehe die beabsichtigte Versammlung für Sonntag angesetzt wird, vorher den Besuch des Herrn Geistlichen aus Metz. In vorzüglicher Hochachtung".


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 32: Von Lierschied über Reitzenhain zur Loreley“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-32> (aufgerufen am 06.05.2024)