Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 29: Von Wiesbaden nach Braubach

[46-47]
Im Kreis St. Goarshausen.

Am 16. September, Hl. Messe, dann eine Ansprache in der Kirche für die in der Stadt wohnenden Metzer. Der Herr Landrat war nicht zu sprechen. Ein Beamter hatte erfahren, daß ich französisch gesprochen habe. Nach einigen Erklärungen verständigten wir uns friedlich. Ich erhielt die Erlaubnis, am kommenden Sonntag eine große Versammlung in der Stadt abzuhalten.

In achtundzwanzig Ortschaften wohnten die Metzer. Schwer war es, einen festen Reiseplan aufzustellen. Die Dörfer lagen so weit auseinander. Nach dem Besuch beim Herrn Bürgermeister und dem Herrn evangelischen Pfarrer brachte mich der Zug gegen Mittag nach Braubach, wo ein großer Saal gemietet wurde. Trotz Sturm und Regen kamen die Leute von allen Seiten herbeigeeilt. Jammer, Klagen, Heimweh, ungewohnte Kost, dünne Kleider gegen die Kälte, zerrissene Schuhe... stets das nämliche Lied. Sofort ging ein Schreiben an den Herrn Bürgermeister von Metz ab, uns doch recht bald die langersehnte Rückreise erwirken zu wollen.

Nach der Ansprache sattelte ich wieder Schusters Rappen. Langsam gings dahin, dem Rhein entlang. Die lähmende Müdigkeit, die bedauernswerte Lage meiner Landsleute, die Ungewißheit des Krieges, die dunkle Zukunft. — Heute lag mir alles wie eine Zentnerlast auf der Seele. Zum erstenmal bohrte das zehrende Heimweh auch an meinem Herzen. Vertraulich setzte ich mich neben den Vater Rhein, der meine kranken Zehen etwas kühl und doch so wohlig streichelte. Träumerisch folgten meine Augen den plätschernden Wellen. Hohe Berge links und rechts, umwölbt von einem bleiernen, regnerischen Himmel. Was wird wohl mein altes Mütterlein in Metz treiben? Bomben warfen französische Flieger auf die Stadt. Leben meine Eltern, meine Geschwister, Meine Freunde noch? Ist unsere schöne Pfarrkirche nicht [S. 47] in einen Trümmerhaufen umgewandelt? „Heim will ich, heute noch! Was kann ich den armen Leuten nützen? Warum mich so abmühen?"

[Es folgt das Gedicht „Und Tage sind voll dumpfer, dunkler Einsamkeit“ von H. Faßbinder, auf dessen Wiedergabe hier verzichtet wird.]

Beschämt zuckte ich zusammen. Da hätte beinahe das Herz den Verstand überrumpelt. Strümpfe und Schuhe wurden wieder angezogen. Es begann stärker zu regnen. Kein schützender, wärmender Mantel. Es fror mich. Trotz aller Willensanstrengung war der Humor dahin. Wegen des Regens mußte das Brevier in der Tasche bleiben. Soll nicht der Rosenkranz neuen Mut bringen?


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 29: Von Wiesbaden nach Braubach“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-29> (aufgerufen am 06.05.2024)