Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915

Abschnitt 31: Mühevoller Weg in die Dörfer des Hintertaunus

[49-52] Der 18. September, einer der schlimmsten Tage der ganzen Reise. Am morgen regnete es zwar nicht unaufhörlich, aber der kalte Wind bließ mir andauernd frech ins Gesicht. Von Lipporn marschierte ich nach Welterod, Strüth, Kloster Schönau, dann bald durch Wald, bald durch Wiesen, vier lange Stunden, und das freundliche Städtchen Nastätten lag vor meinen Augen. Hier waren keine Metzer, wohl aber in Miehlen, vier Kilometer weiter nördlich. Eine Kleinbahn verbindet Nastätten mit Miehlen. Welch ein Glück, wenn ich Fahrtgelegenheit bekäme! — Und das Glück lächelte mir zu. Durch den Wald drang die Glocke der Maschine von St. Goarshausen her, Rauch arbeitete sich durch die Äste, der Zug wurde sichtbar. Flugs war die Müdigkeit abgestreift; so schnell die matten Beine nur laufen konnten, ging's im Sturm zum Bahnhof. So ein verflixter Hund bellte mich da noch in einer Straße an. Welch' eine Verkehrsstörung, wenn's so eilt! Mein Regenschirm und alle guten Worte der Welt besänftigten den Köder nicht. Erst auf ein derbes französisches „Va t'en, sal chien!" trat er plötzlich mit eingezogenem Schwanz den Rückzug an. Ach! da lief das Zügelchen schon ein! Mit dem Aufwand der letzten Kraftanstrengung stürmte ich dahin. Welch ein Glück! Die dampfende Maschine stand noch da. „Bekomme ich den Zug nach Miehlen?" Der lange gemütliche Schaffner schaute mich verwundert an. »Wann fährt er ab?" fragte ich, als keine Antwort erfolgte. „Nur langsam. Her! Pfarrer, er fährt erst – morgen früh!“. [S. 50] — „Was, morgen früh?" — „Ja, ja, Herr Pfarrer, erst morgen früh. Da hätten Sie gar nicht so zu laufen brauchen."

Billig und gut war das Mittagessen, noch besser das kurze Schläfchen. Der vierstündige Marsch mit dem Sturmlauf zum Bahnhof hatten mir gleichsam die Glieder gebrochen. Für den Besuch zum Herrn Pfarrer schämte ich mich, die Handschuhe anzuziehen. Das wäre ein zu schrecklicher Kontrast zu den schmutzigen Schuhen und den bespritzten Hosen gewesen. Na, dem guten Diasporapfarrer ist es auch oft so ergangen, hatte er ja über ein Dutzend Dörfer in der Umgegend zu pastorieren. Im Städtchen requierirte er mir einen Wagen. Ein dicker Mantel schützte mich gegen Kälte und Regen. In Miehlen angekommen, schüttete der Himmel solche Wassermassen herunter, daß wir nach der Versammlung eine halbstündige Pause eintreten lassen mußten. Unterdessen beglückte mein Besuch einen Metzer schwerkranken Jüngling, der auch kurz nachher starb. In Marienfels zeigte mir der evangelische Pfarrer seine schöne Kirche mit einem uralten Muttergottesbild und einen Altar, an dem man noch die Kreuze der Einweihung erblickt.

Langweilig war der Weg nach Dachsenhausen. Im Schulhaus hielten wir unsere Versammlung. Dann fuhren wir nach Gemmerich, Himmighoven, Casdorf und kamen um zehn Uhr nach Ruppertshofen. Hier lagen meine Landsleute zum Teil schon im Bett. Ganz verstört kamen sie aufs Bürgermeisteramt. „Ist was passiert? Dürfen wir heim?" Obwohl die verneinende Antwort sehr enttäuschte, freuten sich doch alle über den unerwarteten nächtlichen Besuch. Elf Uhr schlug es vom Kirchturm, als der Wagen in Nastätten wiederanlangte.

Am Samstag, den 19. September, brachte mich die Kleinbahn um acht Uhr nach Bogel. Nun gings berghinunter, vier Kilometer weit, nach Auel. Zwei Metzerinnen, beide in Paris geboren, begleiteten mich nach Lierschied. In flottem französisch schimpften die beide, anscheinend Kellnerinnen von Beruf, über ihre Gastgeber. Unterwegs begegneten wir einem Schutzmann, der mir eine ganze Reihe Anklagepunkte gegen meine Landsleute vortrug. Schließlich kam es zu einem Wortgefecht zwischen einer der Pariserinnen und dem Hüter des Gesetzes. Dieser sprach deutsch, jene französisch. Da sich beide nicht verstanden, floß das tollste Zeug über die Lippen der erregten Gegner. Wenn mir die [S. 51] Angelegenheit nicht so peinlich gewesen wäre, hätte ich manchmal laut auflachen mögen. Wir schieden in Frieden von einander.

In Lierscheid herrschte allgemeines Jammern und Stöhnen. Viele meiner Landsleute waren der Verzweiflung nahe. Ein achtzigjähriges Mütterlein weinte zum Steinerweichen.

„In der Fremde wird es klar
Wie so schön die Heimat war."

Ob mein Besuch dieses Heimweh gelindert hat?


Recommended Citation: „Franz Goldschmitt, Kriegserlebnisse evakuierter Metzer Bürger in Hessen, 1914-1915, Abschnitt 31: Mühevoller Weg in die Dörfer des Hintertaunus“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/99-31> (aufgerufen am 06.05.2024)