Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 4: Existenzprobleme der zahlreicher Frauen im Krieg

[178-179] So konnte wenigstens da und dort ein wenig Helle verbreitet werden. Die allgemeine Panik ging aber sogar so weit, dass man Putz- und Flickfrauen abschaffte etc. Im Zusammenhang damit ist mir ein feinmenschliches Erlebnis in Erinnerung geblieben. Wir hatten für unsern großen Haushalt eine Flickfrau, die seit vielen Jahren einmal in der Woche zu uns kam. Als das Gespräch mal darauf kam, fragte ich sie, ob sie auch unter diesen Verhältnissen zu leiden habe? Sie nickte in mühsamer Beherrschung. „Wie viele Tage in der Woche arbeiten Sie noch?“ „Ein bis zwei Tage“, antwortete sie, während ihr die Tränen über die Backen herunterliefen. „Um Gottes Willen, wie kommen Sie da zurecht?“ — Sie zuckte mit den Achseln: „Ich habe noch einige kleine Ersparnisse.“ - „Das geht doch nicht! Sie können doch nicht Ihr Letztes aufzehren! Warum nehmen Sie die Kriegsfürsorge nicht in Anspruch?“ — „Ach nein, das möchte ich nicht!“ - „Warum nicht? Andere tun’s doch auch? Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen ein Briefchen mit, die kennen mich dort!“ — „Ach nein, das möchte ich nicht!“ - „Gut, dann gehe ich für Sie.“ — „Nein, tun Sie das nicht. Ich danke Ihnen sehr, aber ich meine, da sind andere, die es noch nötiger haben als ich!“ Da war ich geschlagen. Ich habe ihr dann später in anderem Zusammenhang doch noch geholfen und ihr am Ende einen Kranz aufs Grab gelegt. - Ihr, die eine jener stillen Heldinnen des Alltags war, von denen niemand weiß und in denen doch Kraft und Würde unseres Volkes beschlossen liegt. Eine Heldin und ein Beispiel.

[S. 179] Noch eine liebe Erinnerung an die erste Kriegszeit und meine Tätigkeit in der Kriegsfürsorge sei hier eingefügt. Ich hatte für die damalige Kleine Presse1 einen Aufsatz geschrieben, in dem ich das Leben und Treiben in unserer Kriegsfürsorgestelle, die vielfältigen Aufgaben, die sich im Zusammenhang unserer Arbeit ergaben, die Nöte und Sorgen, die vor uns gebracht wurden, in anschaulicher Weise darzustellen suchte. Wenige Tage später suchte mich ein Chef der angesehenen Lebensmittelfirma Latscha2 in meiner Privatwohnung auf und übergab mir ein Büchlein mit hundert Bons à drei Mark, die zum Bezug von Lebensmitteln in der Höhe dieses Betrages berechtigten und die wir an Bedürftige nach unserem Ermessen austeilen sollten. — Ich kann sagen, dass mir nie in meinem Leben ein Honorar mehr Freude gemacht hat als dieses und ich war stolz, als ich diese großzügige Spende unserer Kriegsfürsorge übermitteln konnte.


  1. Die Kleine Presse war eine 1885-ö1922 herausgegebene Frankfurter Zeitung.
  2. Die in Frankfurt ansässige Lebensmittelfirma des verstorbenen Jakob Latscha.

Persons: Fürth, Henriette · Latscha, Jakob
Places: Frankfurt
Keywords: Armut · Frauen · Sozialfürsorge · Arbeitslosigkeit · Latscha, Lebensmittelfirma
Recommended Citation: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 4: Existenzprobleme der zahlreicher Frauen im Krieg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/29-4> (aufgerufen am 20.04.2024)