Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 9: Kriegspropaganda, U-Bootkrieg, Gedankenlosigkeit

[183-184] Und es ging weiter. Und wir wurden weiter belogen und betrogen. Man fabelte uns von Sieg, als der Untergang schon besiegelt war. Und es kam das Verbrechen des U-Bootkriegs. Ein hoher Beamter erzählte mir damals, Präsident Wilson habe die Absicht gehabt, im Januar 1917 einen ultimativen Friedensvorschlag an die Entente zu richten und im Falle der Ablehnung die Konsequenzen in Bezug auf amerikanische Kriegsbelieferung etc. zu ziehen. Vielleicht war bei dieser Annahme der Wunsch Vater des Gedankens, denn das Kapital der amerikanischen Hochfinanz war zu stark bei der Entente engagiert. Gleichviel, der Bericht meines Gewährsmannes besagte weiter, dass als dann gegen die Abrede Deutschland den U-Bootkrieg begann und (auf welch verbrecherisch schmaler Basis) Wilson eine von Bernstorff nachgesuchte Audienz mit den Worten [S. 184] zurückgewiesen habe: „Mit Schuften verhandele ich nicht“ - so begann das Verbrechen des Unterseebotkrieges1. Ein selbst vom machtpolitischen Standpunkt aus wahnwitziges Unterfangen.

Vernünftige Friedensvorschläge wurden zurückgewiesen, der Frühjahrsangriff von 1918 inszeniert. Ich fuhr damals im Schlafwagen zu irgendeiner Tagung nach Berlin. Eine Hauptmannsgattin, die mit mir den Raum teilte, sprach von der bevorstehenden Offensive und dass man mit einer halben Million Verluste rechne. Sie sagte das genau so gleichmütig, wie etwa eine Hausfrau erklärt: „Morgen koche ich Sauerkraut.“ Ich bin das Entsetzen über diese kennzeichnende kühle Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit denen man hier eine halbe Million Menschen zum Tode verurteilte, bis zu dieser Stunde nicht los geworden. Wir dürfen uns, so meine ich, nicht wundern, wenn in der Menschheit der Nachkriegszeit das Menschenleben so niedrig eingeschätzt wird, dass Mord und Totschlag, Bestialität und Gemeinheit die täglichen Begleiterscheinungen des Lebens geworden sind.


  1. “In der europäischen Öffentlichkeit zeigte der von Woodrow Wilson (1856-1924) am 22. Januar 1917 vor dem amerikanischen Senat präsentierte Friedensplan nur eine begrenzte Wirkung. Stattdessen eröffnete Deutschland zum 1. Februar den uneingeschränkten Unterseebootkrieg. Nachdem der deutsche Diplomat Johann Heinrich von Bernstorff (1862-1939) die amerikanische Regierung am 31. Januar davon in Kenntnis gesetzt hatte, brach Wilson die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab.“ (Anm. Edition)

Persons: Fürth, Henriette · Bernstorff, Johann Heinrich von · Wilson, Woodrow
Places: Berlin
Keywords: U-Bootkrieg · Friedensvorschläge
Recommended Citation: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 9: Kriegspropaganda, U-Bootkrieg, Gedankenlosigkeit“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/29-9> (aufgerufen am 27.04.2024)