Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 7: Konflikte mit der Bürokratie, Einsatz für Familien

[183] Ich war eine Zeit lang auf dem Lebensmittelamt einem rüden Gesellen unterstellt, dem jedes Mitfühlen, jede Art sozialer Einstellung abging. Nun hatte ich von Herrn Stadtrat Rössler1 dem das ganze Lebensmittelamt unterstellt war, die Erlaubnis bzw. den Auftrag bekommen, in besonderen Fällen über das Schema hinaus extra Zuweisungen an Lebensmittelscheinen zu verfügen. Ich tat das nach bestem Wissen und Gewissen und hatte noch vor einigen Monaten das Vergnügen, dass mich eine Frau in der Straßenbahn anredete: „Sind Sie nicht die Frau Fürth? Ich kann es nicht vergessen, dass Sie mir während des Krieges manchmal ein paar Brotscheine geschenkt haben.“ Diese meine Tätigkeit wurde sehr zum Verdruss einiger jugendlicher Angestellten ausgeübt. Einer dieser Schnösel wagte es sogar, mich im Angesicht des Publikums herunterzukanzeln. Ich suchte Schutz bei einem der höheren Vorgesetzten und bat ihn, in Gegenwart meines Beleidigers, dass er seinen Untergebenen dazu erziehen solle, sich Damen gegenüber wie ein Gentleman zu benehmen. Als ich diesen Schutz dort nicht fand, ging ich zu Stadtrat Rössler. Mit der Wirkung, dass Herr N. sich bei mir entschuldigte. Er glaubte, dem hinzufügen zu sollen: „Frau Fürth, Sie haben Feinde hier im Amt.“ Ich wies ihn kalt ab mit der Bemerkung, dass mich das nicht interessiere. Ich tue meine Schuldigkeit und alles Übrige sei mir egal.

Am bezeichnendsten aber für die Einstellung dieser Herren, die zum Teil Drückeberger waren, und zugleich ein Beweis für die unsägliche Not und das Elend unseres Volkes, ist ein anderer Vorgang. Zu mir kam eine Frau, der die Todeskrankheit auf dem weißen Gesicht stand, mit der Bitte um ein paar extra Brotscheine für ihre Kinder. Ich ging in das neben gelegene Zimmer, zu der Dame, die die Ausstellung der Brotscheine unter sich hatte, und bat um sechs Brotscheine. „Frau Fürth, das dürfen Sie nicht!“, schrieh mich Herr X an. „Ich habe eine Frau draußen, die fällt mir zusammen.“ — „Lassen Sie sie zusammenfallen.“ Ich drehte ihm verächtlich den Rücken und sage: „Ich bitte um Brotscheine.“ Ich bekam sie. Nie im Leben werde ich vergessen, wie es in den angstweiten Augen des etwa fünfjährigen Jungen, der mit seiner Mutter war, aufleuchtete, wie sein ganzes Gesicht sich verklärte, als ihm die Mutter die sechs Brotscheine zeigte.


  1. Fritz Rössler (1870-1937), Chemiker, Unternehmer und Stadtrat.

Persons: Fürth, Henriette
Recommended Citation: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 7: Konflikte mit der Bürokratie, Einsatz für Familien“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/29-7> (aufgerufen am 26.04.2024)