Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915

Abschnitt 6: Beschreibung der Stadt Audenarde

[Teil II, S. 7-13] [7-8] [S. 7] Nun liegen die Tage von Audenarde hinter uns, und wenn wir später einmal rückschauend unsere Erlebnisse an uns vorüberziehen lassen, werden uns die vier Wochen, die wir in diesem Städtchen Ostflanderns zubringen mußten, in freundlichem Lichte erscheinen.

Audenarde liegt an beiden Seiten der Schelde, die sich hier in mehreren Nebenarmen verzweigt, etwa 28 Kilometer südlich von Gent und 30 Kilometer östlich von Courtrai1. Mit zwei unmittelbar anschließenden Vororten Leupegem im Süden und Bevere im Norden hat es rund 10000 Einwohner. Prächtig und architektonisch interessant sind seine Kirchen, der durch eine Feuersbrunst 1804 seiner Spitze beraubte mächtige Turm des St. Walburge Domes weckte heimatliche Erinnerungen. Mehrere schöne Fontänen dienen den freien Plätzen zur Zierde, unter den Denkmälern ragt das Monument du Mexique durch seine künstlerische Gestaltung und eindringliche Wirkung hervor. Eine auf mächtigem Sockel ruhende Frauengestalt, in deren edlen Zügen wir tiefe Trauer lesen, versinnbildlicht den Schmerz der belgischen Nation über den Tod ihrer 1867 bei Tacambaro (Mexiko) gefallenen heldenmütigen Söhne.1 Zahlreiche alte Häuser mit Fassaden aus dem 16. und 17. Jahrhundert fesseln unseren Blick und malerische Häusergruppen, vor allem die an der Burgschelde, haben schon seit vielen Jahren auch deutsche Künstler nach diesem Ort gezogen. Das schönste aber, was Audenarde an Bauwerken aufzuweisen hat, ein wahres Juwel gotischer Kunst, ist das Rathaus der Stadt, das in den Jahren 1526 – 1536 von dem Brüsseler Meister van Pede errichtet wurde. Eine Beschreibung dieses steinernen Schmuckstückes dürfte hier zu weit führen, aber ich bin gewiß, daß es auf viele Kameraden einen unvergänglichen Eindruck gemacht und mancher sich an dem [S. 8] tollen Humor der zahlreichen Tiergestalten, mit denen die Fassade geschmückt ist, ergötzt hat. Der schlanke hochstrebende Turm endigt in einer Krone, der österreichischen Kaiserkrone, auf der sich stolz die Figur des „ältesten Bürgers der Stadt". Hänschen des Krieges (Petit Jean le Guerrier) erhebt. Seit vier Jahrhunderten steht er auf seiner luftigen Höhe und hat alle die wechselnden Schicksale Flanderns zu seinen Füßen sich vollziehen sehen.

Audenarde ist in der Geschichte bekannt durch die Schlacht, die vor seinen Mauern 1708 geschlagen wurde. Hier in dem Schloß von Bourgogne war es ja auch, wo Karl V. während der Belagerung von Courtrai entfernt, sechs Wochen verweilte. Und wenn man fragt, was den Kaiser solange Zeit so fern von seinem Heere hielt, so war es nicht die Schönheit der Stadt oder die gastliche Aufnahme, die er im Hause der Komtesse de Lalaing fand, sondern der Liebreiz der jungen Flamländerin Jeanne van der Gheenst, des Kammerzöfchens der Gastherrin, die den Kaiser gefangen nahm. Sie wurde die Mutter der berühmten Margarete von Parma, der späteren kraftvollen Gouverneurin der Niederlande. Einen Weltruf genoß früher die Stadt durch ihre Teppichwebereien, in denen Gobelins von hohem künstlerischem Wert hergestellt wurden. Diese Industrie wurde durch die Auswanderung der Weber nach England und dadurch, daß Ludwig XIII. und XIV. die besten Meister durch hohe Löhne nach Paris lockte, lahmgelegt und schließlich ruiniert.

Heute ist der Hauptzweig der Audenarder Industrie die Baumwollspinnerei und -Weberei. Neun Brauereien versorgen die Stadt und die weitere Umgebung mit dem im Lande rühmlichst bekannten Audenarder Bier, das uns aber gar nicht munden will und erst durch einen Zusatz von Limonade (half und half) bekömmlich wird.


  1. Ca. 60 km von Brüssel.
  2. Gefallene des belgischen Freiwilligenkorps, die während der französischen Intervention in Mexiko kämpften.

Persons: Gheenst, Jeanne van der · Lalaing, Komtesse de · Ludwig XIII., Frankreich, König · Ludwig XIV., Frankreich, König · Neuhaus, Wilhelm · Karl V., Heiliges Römisches Reich, Kaiser · Parma, Margarete von · Pede, Hendrik van
Places: Brüssel · Courtrai · England · Gent · Hersfeld · Leupegem · Niederlande · Österreich · Oudenaarde · Tacambaro (Mexiko)
Keywords: Baumwollspinnereien · Brauereien · Denkmale · Industrie · Teppichweberei
Recommended Citation: „Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915, Abschnitt 6: Beschreibung der Stadt Audenarde“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/21-6> (aufgerufen am 25.04.2024)