Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915

Abschnitt 7: Beschreibung der Lebensumstände und der Bevölkerung in Flandern

[Teil II, S. 7-13] [8-9] Wir sind in Bezug auf Genußmittel überhaupt recht übel daran, da uns auch die belgischen Zigarren und vor allein erst gar der Tabak gar nicht zusagen. Schnapsausschank ist überhaupt verboten und die belgische Wurst erweckt in uns Grauen, nur das Gehackte, Gekaptes sagt man hier, findet fleißig Abnehmer. Käse ist nicht viel zu haben und teuer, dagegen die Butter gut und mit 80 Centimes für das halbe Pfund nicht zu hoch bezahlt. Das Brot aus feingeschrotenem Weizenmehl, anderes gibt es [S. 9] nicht, ist miserabel, und mit Sehnsucht denken die Audenarder an ihr früheres gutes Gebäck zurück. In der ärmeren Bevölkerung herrscht schon eine wahre Brotnot und der hungernden und um Brot bettelnden Kinder waren an unserem Kasernentor immer gar viele.

Was uns in den flandrischen Städten, vielleicht ist es in ganz Belgien so, auffällt, ist die geringe Spezialisierung der Geschäfte. Der Barbier ist zumeist auch Wirt, der Bäcker Spielwarenhändler, Schuhwaren und Obst können recht wohl zusammen verkauft werden usw. Die Fülle der kleinen Wirtschaften, Estaminets genannt, ist in allen Orten außerordentlich, aus 30 – 40 Einwohner kommt eine Kneipe, sodaß Audenarde etwa 200 – 300 haben mag. Sie sind, wie mir ein Belgier sagte, eine Pest für das Land und man wird doch wohl einmal dem wachsenden Uebel durch Einführung der Konzessionspflicht steuern müssen. Erfolglos sind auch die Bemühungen von Kirche und Schule, dem frühen Tabaksrauchen entgegenzutreten. Wir konnten 4-5jährige Kinder rauchen sehen und selbst Eltern aus besseren Ständen finden nichts darin, wenn sich das zehnjährige Söhnchen geschickt eine Zigarette dreht. Die allgemeine Schulpflicht ist erst kurz vor Beginn des Krieges zum Gesetz erhoben, aber noch längst nicht durchgeführt worden. Die Verwendung von Hunden als Zugtiere ist allgemein, auch beim Militär, üblich und oft muß so ein armes Tier zwei Personen ziehen. Das Land ist fruchtbar und unsere Landwirte wundern sich, daß nirgends auch nur ein Steinchen im Ackerlande zu finden ist und denken wehmütig an die Plage auf dem bergigen, steinigen, kargen Acker daheim. Aber tauschen würde doch keiner wollen! Die Chausseen sind gut, durchweg in der Mitte gepflastert, von Eichen, Pappeln und Weiden gesäumt.


Persons: Neuhaus, Wilhelm
Places: Hersfeld · Oudenaarde
Keywords: Erziehung · Genussmittel · Kneipen · Schulpflicht · Sitte
Recommended Citation: „Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915, Abschnitt 7: Beschreibung der Lebensumstände und der Bevölkerung in Flandern“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/21-7> (aufgerufen am 19.04.2024)