Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915

Abschnitt 1: Abfahrt aus Hersfeld, 20.10.1914

[Teil I, S. 1-6] [1-2] [S. 1] Tücherwinken, Hüteschwenken, noch ein paar flüchtige Händedrucke – – und langsam setzt sich unser Zug, der das Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld in die Ferne führen sollte, in Bewegung. Wohl durchflutete da tiefe Wehmut unsere Herzen, wenn wir in die schmerzerfüllten Augen unserer Lieben sahen, wohl konnten wir ein stilles Bangen nicht unterdrücken, wenn wir daran dachten, daß wir Weib und Kind in schwerer Zeit allein lassen mußten. Wem aber hätten auch nicht Freude und Stolz die Herzen höher schlagen lassen! Wir sollten ja nun endlich hinausziehen um nach unseren Kräften mitzuhelfen an dem großen heiligen Werke, das die Kraft jedes deutschen Mannes forderte. Pünktlich 10.40 Uhr verließen wir am 20. Okt. vormittags das gastliche Hersfeld, das uns 9 Wochen hindurch als Landstürmer beherbergt hatte, und erreichten in langsamer Fahrt die wunderschönen, bronzefarbenen Herbstwälder des Vogelgebirges durchquerend ebenso pünktlich um 6.30 abends Gießen, wo wir die erste Verpflegung empfingen. Dann ging es in die Nacht hinein durch das Sieger Land, wo die Hochöfen gleich gewaltigen Flammenzeichen ihren Schein in unsere Wagen warfen. Allmählich senkte sich der Schlaf auf die Lider, als aber 4.15 Uhr unser Zug bei Cöln die Rheinbrücke passierte, und sich durch das Morgendunkel die gewaltige Silhouette des Domes abhob, da war alle Müdigkeit verschwunden. „Es braucht ein Ruf wie Donnerhall“ klang es hinaus aus allen Wagen über die Fluten des deutschen Rheins „ja, ja, wir alle wollen deine Hüter sein!“ Wie oft hatten wir die Weise gesungen, wie ganz anders aber sangen wir sie jetzt, da uns die Worte wie ein heiliges Gelöbnis aus dem Herzen quollen.

In Cöln-Longwich1 dann Morgenkaffee. Anders wie bei Muttern daheim. In der einen Hand zwei Brotschnitze, in der andern die Schale mit dem schwarzen Kaffee und über dem Aermel ein paar Würstchen hängend, so zogen wir im Gänsemarsch aus der Bretterbude der Verpflegungsstation. Aber geschmeckt hat es uns doch. Geschmeckt hat es uns doch, [S. 2] hat es uns überhaupt immer, ob wir unsere Suppe aus dem Kochgeschirrdeckel in der Hand an der Müllgrube des Bahnhofs Brüssel-Schaerbeck, in riechbarer Nähe der Aborte, aßen, als die Deichsel der Mistwagen auf dem Hofe der Kriegsschule in Brüssel uns als Tisch dienen mußten oder als es nicht einmal zu einer Suppe langte, und wir unser letztes Hersfelder Brot und den letzten Speck in den Straßen Sottegems2 als einzige Tageskost aus der Faust verzehrten. Ihr Hersfelder Frauen, da hättet ihr eure verwöhnten Männer sehen sollen! Ueberhaupt ein Glück, daß wir uns noch in Hersfeld mit Proviant versorgt hatten, in Belgien ist nicht viel zu holen. Hinter Cöln kamen uns dann auch die ersten Zeichen des Krieges zu Gesicht: lange Züge mit Verwundeten, Gefangenentransporte, ein Zug mit zertrümmerten Autos usf.


  1. Longerich, nördlicher Vorort von Köln.
  2. Zottegem, ca. 50 km westlich von Brüssel.

Persons: Neuhaus, Wilhelm
Places: Brüssel · Brüssel-Schaerbeck · Gießen · Hersfeld · Köln · Köln-Longerich
Keywords: Militärschulen
Recommended Citation: „Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915, Abschnitt 1: Abfahrt aus Hersfeld, 20.10.1914“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/21-1> (aufgerufen am 25.04.2024)