Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915

Abschnitt 3: Ankunft und Einmarsch in Brüssel, 22.-23.10.1914

[Teil I, S. 1-6] [4-5] Um 2 Uhr nachts (22. Oktober) langten wir auf dem Vorortbahnhof Rogierstraße an. Wer aber geglaubt hatte, noch in dieser Nacht seinen harten Banksitz im Zuge mit einem Strohlager vertauschen zu können, sah sich schmerzlich enttäuscht. Bis um 12 Uhr mittags blieben wir hier liegen und hatten reichlich Gelegenheit, die schlechten belgischen Zigarren, den billigen, guten Rotwein und die [S. 4] wundervollen süßen Weintrauben, die uns von fliegenden Händlern angeboten wurden, zu kosten. Erst um 2 Uhr konnten wir auf dem Nordbahnhof von Brüssel unsere allmählich ungastlich gewordenen Wagen verlasen. Dann aber kam ein stolzer Augenblick, unter den Rasseln der Trommeln und dem Jubel der Pfeifen marschierte das Bataillon in Brüssel ein, erst zum Bahnhof Schaerbeck zum Kommisbrot und Essensempfang und dann zurück zur ecole militaire, der Kriegsschule. Ein mehrstündiger Marsch, der nach den schlaflosen Nächten u. mit dem übervollen Gepäck sicher manchem recht sauer geworden ist. Aber niemand ließ sich etwas merken, die Muskeln strafften sich und die Herzen schlugen höher, als das „Heil dir im Siegerkranz“ und die alten preußischen Schlachtenmärsche durch die Straßen von Belgiens Hauptstadt hallten. In der Kriegsschule kamen wir dann endlich zur wohlverdienten Ruhe. Glücklich, wer noch eine dünne Matratze, einen Schlafsack und gar einen Decke erwischen konnte, aber auch auf dem blanken Fußboden schlief es sich gut.

Am folgenden Tag war Ruhetag, der erste Löhnungstag in Feindesland, der uns ungeahnte Reichtümer in den Schoß warf, da wir nun statt der 33 Pfg. in der Heimat 53 Pfg. pro Tag empfingen und am Nachmittag konnten wir uns für ein paar Stunden die Herrlichkeiten Brüssels ansehen, das wohl eine der schönsten Städte Europas ist. Staunend standen wir auf dem Grand Place, der wohl in der Welt nicht seinesgleichen hat, sahen die prachtvollen Kirchen, den Triumpf-Bogen, der unserem Brandenburger Tor in Berlin so ähnlich sieht, die Kongreßsäule, die Börse usw. und nur zu bald rief und die eilende Zeit in die Kriegsschule zurück. Die Bevölkerung verhielt sich ruhig und das viele deutsche Militär, was man auf den Straßen erblickt, läßt das ja auch ratsam erscheinen. Aber wo es angeht, läßt man uns fühlen, daß wir unwillkommene Eindringlinge sind. So konnten wir z. B. in der elektrischen Straßenbahn, auf der nebenbei bemerkt alle deutsche Soldaten freie Fahrt haben – und sie sind ständig gut von ihnen besetzt – beobachten, daß Brüsseler Damen den ihnen von Deutschen angebotenen Platz nicht annahmen, sondern lieber stehen blieben oder daß sich ein belgischer Herr auf den freigewordenen Platz schob und so seinen Platz für die Dame freimachte. Auch sollen [S. 5] die belgischen Uhren bekanntlich deutsche Zeit anzeigen, aber die meisten verweigern diese Zumutung mit nationalem Stolz und bleiben, da sie in gewohnter Weise nicht laufen dürfen, lieber stehen. - Unsere Kriegsschule ist ein prächtig eingerichtetes Gebäude, mit dem die Hersfelder keinen Vergleich wagen kann. Große Säle, vorzüglich eingerichtete Lehrmittelzimmer und Hörräume, unterirdische Scheibenstände für Pistolen und Gewehre, ein prächtiges Schwimmbad u. v. a. zeugen dafür. Gern wären wir geblieben, und es schien auch erst so, als ob wir in Brüssel Verwendung finden sollten. Es hat nicht sollen sein.


Persons: Neuhaus, Wilhelm
Places: Berlin · Brüssel · Hersfeld · Schaerbeck
Keywords: Eindringling · Invasion · Kriegsschule Hersfeld · Militärmusik · Soldaten · Straßenbahn
Recommended Citation: „Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915, Abschnitt 3: Ankunft und Einmarsch in Brüssel, 22.-23.10.1914“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/21-3> (aufgerufen am 19.04.2024)