Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources


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Seite 28-29

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Seite 30-31

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Seite 32-33

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Seite 29: Das zerstörte Dorf Courteron

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Seite 31: Größere Gruppe von Soldaten des REserve-Infanterie-Regiment Nr. 39 vor einem Unterstand

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Seite 33: Platzkonzert der Militärkapelle in Crandelain

↑ Tagebuch des Trainsoldaten und Infanteristen Max Müller aus Kassel, 1914-1916

Abschnitt 6: Tod und Zerstörungen an der Front

[29-33]

Eines Tages bekam ich den Befehl einen Hobel und Stemmeisen zu besorgen. Ich also los über Pancy1 nach Chamouille2. Der Ort ist fast leer, etwa 80 Zivilpersonen hausen hier noch. Der Franzmann beschießt Chamouille heftig. Ob er weiß, daß ich hier umhergeistere? Das Haus, in dem der Div.-Pfarrer wohnte, ist vollständig zerstört. Eine Granate sauste vom Dach bis in den Keller, wo sie explodierte. Die beiden Burschen des Pf[arrers] waren gerade beim Bettenbau, einer tot, der andere schwer verwundet. Hobel und Stemmeisen nicht aufzutreiben. Ich also weiter. Es ist nichts Angenehmes durch ein vollständig zerschossenes Dorf wie Courteron mutterseelenallein zu wandern.

{Foto eines zerstörten Dorfes, möglicherweise Courteron. }

[S. 30] Hin und wieder eine verwilderte Katze und zu ihrem ungefährlichen Miauen das der großen Katzen, die der Franzmann in dieses zerschossene Dorf schickt. Ich möcht nur wissen wozu? Hier befindet sich außer mir keine lebende Seele. Ich habe mich manchesmal auf die Erde gelegt, bin aber wieder heil aus diesem Nest, wenn auch ohne Hobel und Eisen herausgekommen. – Nun sind wir wieder im bekannten Tannengraben. Ich habe bis um 8.00 geschlafen und hätte noch länger geschlafen, wenn mir nicht eine Maus übers Gesicht gehuscht wäre. Heute hatten wir Ruhe, der Franzmann feierte. Ich machte es mir gemütlich, trank Kaffee und aß 3 Stullen, 2 mit Käse, die andere mit Schinken (aus dem letzten Paket von Fritz3) dann nahm ich meine Zeitungen vom 14. + 15. Sept. [1915] zur Hand, setzte mich in eine Ecke und träumte von der Heimat von meinen Lieben. Ob ich wohl mal bald auf Urlaub fahre? Gemunkelt wird ja. Seit einem Jahr bin ich nun von [zu] Hause fort. In meine Träumereien kommt die Meldung, daß ein Pionier in Ferme Créluie4 einen Spion festgenommen hat, der, nachdem er überführt war, sofort [S. 31] erschossen wurde. – Am Nachmittag haben wir an unserer neuen Wohnbude gebaut.

{Foto einer größeren Gruppe von Soldaten vor Unterständen}

Franzmann ist ganz ruhig, das hat sicher nichts Gutes zu bedeuten. Richtig (24.9.) [1915] es geht los, schwerste Kaliber. In der Nacht wurde Seppel von M.-G. 3. Komp. durch einen Querschläger vom Schulterblatt zur Herzgrube getötet. Unser Graben am Heinekopf ist vollkommen zerschossen. Von 1.30 – 2.30 sind 40 Minen bei uns runter gegangen. 1 Toter. [S. 32] Jetzt schießt der Franzmann 48 Std. ununterbrochen. Kam[erad] Franzer am Auge verwundet, ist wahrscheinlich ausgelaufen. Am 27.9. nachts 12.00 hört das Schießen nach 72 Std. endlich auf. Wir sind fast taub, schreien uns gegenseitig an. Ob er nun angreift und denkt unsere zerschossenen Gräben sind sturmreif ? Kommen lassen. Wir sind noch alle da. Unsere Division hat in den 72 Std. 10.000 Minen und 7.000 Granaten bekommen und dabei an Verlusten gehabt 4 Tote und 27 Verwundete. Die sollen drüben nur so ihre Munition weiter verschießen! Es geschieht nichts, er muß sich von der Anstrengung erholen. Ich wandere nach Braye5, um für unsere Wohnbude Fensterscheiben zu holen, die die meisten beim Trommelfeuer flöten gegangen sind. In Braye aber auch keine heile Scheibe mehr zu finden. – Eben höre ich, daß der Urlaub vorläufig gesperrt ist. Nette Aussichten. Nun ist der Oktober da, heute werden wir abgelöst, es geht nach Crandelaine. Am 3. X. [1915] dienstfrei. Nachmittags um 4.00 Konzert, 100 l Freibier, gestiftet von Herrn Hptm. Brill. Wir haben herrliche Stunden verlebt, man [merkt] [S. 33] nichts vom Krieg. Die Vortragsfolge der Kapelle wurde durch humoristische Vorträge und Gesänge unterbrochen. Es war köstlich. Sogar einen Leierkasten haben wir aufgetrieben.

{Foto der Musikkapelle und der Zuhörer}


  1. Heute Pancy-Courtecon, Ort zwischen Crandelain und Chamouille, Département Aisne.
  2. Ort am Lac d’Ailette, Département Aisne, etwa 3 km östlich von Crandelain.
  3. "Fritz" ist der von Max Müller häufig gebrauchte Kosename für seine Frau Frieda.
  4. Bisher nicht lokalisiert
  5. Braye-en-Laonnois, südlich des Chemin des Dames, etwa 5 km südlich von Crandelain.

Persons: Müller, Max · Müller, Frieda (Fritz)
Recommended Citation: „Tagebuch des Trainsoldaten und Infanteristen Max Müller aus Kassel, 1914-1916, Abschnitt 6: Tod und Zerstörungen an der Front“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/179-6> (aufgerufen am 25.04.2024)