Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 14: Eindrücke bei den Märschen in Ostflandern

[296-297]
G.C. Ja, die Flüchtlinge, sie lassen uns merken, daß Krieg im Lande ist, und je häufiger sie an uns vorüber fluten, wie wir der Front stets näher kommen. Erst einzeln, dann kleinere Trupps und zuletzt ein ununterbrochener Zug: auf Wagen die Reicheren, die Armen zu Fuß mit scheuem, gehetztem Schritt, junge Weiber, die Kinder auf dem Arm, die schon größeren am Rock, und Männer, die sich schämten und nicht zu uns aufsahen, den Kopf nach vorn, ein schweres Bündel auf dem Rücken, darin all ihre gerettete Habe; und Greise, schwache, gebrechliche, die von den Kindern gestützt werden, und Tränen und Tränen und Weinen und Not und Armut — heimatlos. . . . Das ist der Krieg, das ist der Krieg. —

Und alle die Muttergottesbilder, die zahlreich am Wege stehen, schauen ernst und traurig hernieder, und manches heiße Gebet ist zum Gekreuzigten aufgerungen, der stumm und doch Friede und Hilfe spendend auf den Armen im Wegstaub segnend herabschaut.

Die Dörfer, durch die wir gekommem: überall stehen Männer und Frauen vor der Türe und grüßen uns demütig. Meist haben die Männer ein kleines Kind auf dem Arm, gleich als ob das seinem Träger Schutz verleihen sollte. Ganz anders, [S. 297] wenn schon äußerlich sehr ähnlich, ist das Verhalten der Bevölkerung in den Städten, durch die unser Weg ging. Schon viele grüßten uns hier überhaupt nicht; um so abstoßender wirkte die Art, mit der sich uns die halbwüchsigen Mädchen näherten und gar begleiteten. Da sahen wir's denn, wie später noch viel erschreckender, welche Sittlichkeit in diesem Lande der unzähligen Cafés und Estaminets1 herrschte, die nicht nur in den Städten, sondern längs der Landstraßen in dichter Folge mit den lockendsten Schildern ihr Wesen trieben. Schade um das flandrische Volk, das so viel deutsches Blut in seinen Adern hat, wie seine Sprache deutsch ist, mit der mir so ein kleiner Lockenkopf, den ich französisch angesprochen hatte, drollig zurückgab: „Kan nit verstan". Fast zu Tränen hat mich dies eine Wort gerührt, das mich in so selige Tage zurückversetzte, da ich jene schöne Geschichte vom „Kan nit verstan"2 zum ersten Male las. — Und heute lebte ich im Krieg. — —

An diesem 16. Oktober — es war ein Freitag marschierten wir in nicht allzugroßem Marsche von Op-Hasselt nach einem kleineren Dörfchen mit Namen Berleghem. Hier in Berleghem kam unsere Kompagnie in eine Brauerei zu liegen. Meine Korporalschaft erhielt ihren Platz oben unterm Dach, wo es im Gegensatz zum übrigen Raum ziemlich kalt und zugig war. Da wir heute ziemlich zeitig in Quartier gekommen waren, konnten wir uns unter der Pumpe einmal wieder waschen; mir ahnten nicht, daß es das letztemal für langehin sein sollte. Zwar gingen wieder wie schon oft Gerüchte um, wir kämen andern Tags ins Gefecht, oder eine englische Kavalleriepatrouille sei gesehen worden; andere wieder hatten gar zur Nachtzeit entfernten Kanonendonner gehört ich habe auf all diese Redereien denn doch recht wenig gegeben, und wie sich bald herausstellen sollte, mit Recht.

Am Abend trat die Kompagnie wie üblich zugweise zum Essenempfang bei der Gulaschkanone an, wo für unser leibliches Wohl mit mehr oder minder großer Sorgfalt alles bereitet war. Schon fing manchmal der Brotvorrat an knapp zu werden, und langsam gewöhnten wir uns daran, eine Rübe vom Felde als Frühstück zu genießen, oder gar nur das Koppel ein Loch enger zu schnallen.

In der Nacht wurden wir plötzlich alarmiert, und kurz nach 4 Uhr morgens rückten wir ohne einen Schluck Kaffee oder ein Stück Brot aus Berleghem ab. Der Tag brachte uns einen über alles anstrengenden Marsch. Heiß war immer noch der Sonnenschein, und Wasser gab's wenig oder war zu trinken verboten; dazu hatten viele sich völlig die Füße zerschunden auf dem Pflaster der Landstraße. Immer dichter ward der Zug der Truppe; ich glaube, daß wohl unsere ganze ... Reserve-Division auf dieser Heeresstraße ihren Weg nahm, samt Artillerie und Kavallerie. Besonders die Kavalleristen, es waren Jäger zu Pferde und Ulanen, machten uns viel Freude, und mancher zarte und derbe Gruß flog hin und her, wenn wir ihre feldgrau angestrichenen Gäule verulkten. - Aber der Marsch ist lang, und der Affe wird mit den Stunden nicht leichter. Dann glücklich dir Kompagnie, in der die meisten Sänger sind und ein unermüdlicher Spaßvogel, und Wunder vermag eine Mundharmonika zu tun, wenn sie im rechten Augenblick gespielt wird. Wenn immer wir durch eine Stadt zogen, dann habe ich oder St. unsern Zug zum Singen gebracht, wohlbewußt, daß mit dem Sange der Schritt noch einmal so fest wird, und nicht nur unserm Hauptmann hat's jedesmal Freude gemacht.


  1. Kneipen.
  2. Kannitverstan ist eine bekannte Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel (1760-1826) von 1808.

Personen: Weidemann, Wilhelm · Hebel, Johann Peter
Orte: Ophasselt · Berleghem
Sachbegriffe: Flüchtlinge · Frauen · Mädchen · Belgier · Estaminets · Brauereien · Korporalschaften · Kanonendonner · Feldküchen · Gulaschkanonen · Artillerie · Kavallerie · Jäger zu Pferde · Ulanen · Feldgrau · Mundharmonikas
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 10: Eindrücke bei den Märschen in Ostflandern“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-14> (aufgerufen am 26.04.2024)