Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 12: Requirierungen in Geraardsbergen, Fahrt nach Ophasselt

[282-283]

Da wir noch nicht Quartier nehmen konnten, beschloß der Major, in jenem Städtchen Wagen requirieren zu lassen, um denen, die nur schwer noch mitmachten, die Tornister nachfahren zu lassen. Also: „Freiwillige vor!" Ich fühlte mich noch wenig ermüdet, und zumal es vielleicht dabei ein kleines Abenteuer zu erleben galt, sprang ich vor.

Zwölf Mann stark, die zum größeren Teil die stets stramme dritte Kompagnie stellte, zogen wir nun unter Führung unseres Feldwebels B. in Grammont ein, während das Bataillon droben auf der Höhe wartete, bis die requirierten Wagen einträfen. Auf beide Seiten der Straßen verteilt gingen wir im Schutze der Häuserfronten mit aufgepflanztem Seitengewehr vor. Entsetzt wichen Frauen und Kinder, die nach der Sitte vor den Haustüren saßen, vor unserer blinkenden Wehr ins Innere, während sich die Männer, die, faul die Hände in den Taschen, die langen dampfenden Tonpfeifen in einen Mundwinkel geschoben, lauernd und listig unter ihrer tief und schief ins Gesicht gezogenen englischen Mütze hervorsehend umherstanden, verstohlen zu drücken suchten. Schließlich trieben wir einen dieser Kerle auf und ließen uns zum Bürgermeister führen und aufs Rathaus am Markt, wo ein frischer Brunnen plätscherte, unsern Durst zu füllen. Zwei Mann als Posten vor das Haus, zwei weitere auf die Treppengänge usw., so meldeten wir uns beim Stadtoberhaupte an. Der Maire ist beinahe vor Schreck vom Stuhl gesunken und konnte leichenblaß zunächst kein Wort vorbringen, als wir so in sein Zimmer eindrangen und unsere Forderung nannten. Allzu freundlich haben wir auch nicht gerade dreingeschaut. — Schnell willigte der Herr in alles, was wir haben wollten; und schien er uns etwas zu zögern, so räusperte sich einer einmal nach Preußischer Soldatenart und ließ ganz zufällig einmal den Kolben aufstoßen, daß rings alles im Zimmer erzitterte und erschrocken der Herr Maire zusammenzuckte. Garantie über die Haltung seiner Bevölkerung wollte er leisten, nur über das sogenannte Weberviertel lehnte er sie ab.

Wir machten uns an die Arbeit, vielleicht, daß wir richtiger dazu den Herrn Bürgermeister von Grammont mitgenommen hätten, und es gelang uns, wenn schon nicht ohne Schwierigkeiten, dem Bataillon einige Wagen samt Bedeckung zuzusenden, worauf unser Bataillon abmarschierte, während wir, ungefähr 8 Mann noch, in der Stadt blieben. Wir wollten naturgemäß auch einen Vorteil haben und uns auf eigene Hand einen Wagen für uns requirieren, um so dem Bataillon nachzukommen. Aber merkwürdig: nirgends war mehr im Ort ein Wagen oder Pferd vorzufinden. Während wir nun suchten, machte sich der Feldwebel mit einem Mann auf den Weg zum Rathaus zurück; aber der Herr Maire war verschwunden. Inzwischen aber schart sich mehr und mehr das Volk auf den Gassen und umringt, wenn auch in gemessenem Abstand, den Feldwebel, der ganz allein auf dem Marktplatz steht, und deutet auf ihn und gestikuliert lebhaft und aufgeregt.... So treffen wir übrigen mit unserm Führer wieder zusammen; dicht folgt uns eine johlende Menge, die wohl wußte, daß unser Bataillon weiter gerückt war. Ganz innerlich war's uns ja nicht recht angenehm zu Mute; aber ein Gespann mußten wir haben auf jeden Fall! — Ein Paar donnernde Kommandoworte unseres Feldwebels und ihre exakte Ausführung gaben uns die nötige Überlegenheit über die Menge, die immer kühner wurde, als die Abenddämmerung stieg. Da wollte es der Zufall, als wir um die Straßenecke bogen, daß vor einem Estaminet, einer Kneipe, ein Gespann hielt und zugleich ein zweites die Straße so hinauf fuhr, daß es nicht wie manches vorher Reißaus nehmen konnte. Ohne viel Umstände wurde der Kutscher aus dem Lokal geholt, und die Insassen der andern Chaise freundlichst aber dringend ersucht, auszusteigen, da wir für die nächsten Stunden beide Gefährte in Anspruch nehmen müßten. Was [S. 283] half's, man machte gute Miene, zumal wir nunmehr ebenso energisch gegen die Menge vorgingen und sie unter Androhung des Erschießens zum Weitergehen und jedes weitere Folgen als verboten anhießen. Das half, und mit dem Wagen in der Mitte konnten wir unbehelligt Grammont verlassen. Erst weiter hinter der Stadt stiegen wir auf und hießen die Kutscher uns bei Todesstrafe nach dem ungefähr zwei Stunden entfernten Bataillonsquartier im Dorfe Op-Hasselt1 fahren. Schon war's tiefe Nacht und wir so ganz den Wagenführern ausgeliefert, ob die uns gar den Engländern in die Hände spielen würden.... Da kommen des Weges zwei Männer. Als sie uns sehen, flieht der eine, den andern ergreifen und zwingen wir, uns Wegweiser zu sein. Schließlich haben wir das Dorf vor uns, das etwas abseits von der Dorfstraße liegt. Wo wir von der abbiegen, steht ein einsames Estaminet. „Ze nieuwen Katt" lesen wir am Schild; noch dringt Licht durch die geschlossenen Läden. Wir pochen an und sofort wird von der Wirtin geöffnet, die mit ihrem Sohne und ihrem schwarzhaarigen Töchterlein den Ausschank versieht. Haben da noch eine lustige halbe Stunde verbracht bei einem Glase Bier und einem Walzer spielenden Musikautomaten. Und als wir schieden, da meinte die fröhliche Wirtin, der man noch heute, ganz abgesehen von ihrer Tochter, ansah, daß sie einst eine auffallende Schönheit gewesen sein mußte, daß wir denn doch alles andere wären als „barbares". Daß unsere Wegführer ähnlich gedacht haben, sahen wir aus den schmunzelnden Mienen, mit denen sie an dem von uns gespendeten Trunke hingen. . . .


  1. Ophasselt Dorf nördlich Geraardsbergen, heute Ortsteil.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Grammont · Geraardsbergen · Ophasselt
Sachbegriffe: Majore · Autos · Seitengewehre · Rathäuser · Feldwebel · Estaminets · Kneipen · Requirierungen · Engländer · Musikautomaten
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 12: Requirierungen in Geraardsbergen, Fahrt nach Ophasselt“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-12> (aufgerufen am 28.04.2024)