Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 11: Marsch von Enghien nach Geraardsbergen

[281-282]

G.C. Wieder machte das Bataillon halt, und schon lagen viele müde auf dem naßkalten Boden oder stützten mit der Knarre den drückenden ungewohnten Affen1. Da plötzlich kommt ein Meldereiter angesprengt: noch drei Kilometer! — Ein Aufatmen geht durch unsere Reihen. Aber die 3 Kilometer — sie wollten kein Ende nehmen! —

Endlich marschierten wir in unsern Quartierort Enghien2 ein, tief in der Nacht; kein Mensch mehr ließ sich blicken, und wir hatten auch keinen Blick mehr für den Ort und was sonst da sei. In einem Betsaal fanden wir, d. h. die dritte Kompagnie, unser Strohlager, und müde sanken die meisten zum wohlverdienten Schlummer nieder. Ich und noch einige andere, sobald wir den lästigen Affen abgelegt hatten und ihm den entsprechenden Nachtsegen gegeben, merkten kaum etwas von dem 20-Kilometer-Nachtmarsch, und so meldeten wir uns auch freiwillig zum Herbeischaffen der Feldküche, was uns einen nicht uninteressanten Rundgang durch die Stadt brachte und dabei allerlei sehen ließ, was seltsame Schlaglichter auf belgisches öffentliches Leben wirft. — — —

Am andern Morgen [15.10.1914] weckte uns ein wunderschönes Glockenspiel vom Turme der Pfarrkirche3 zu Enghien. Unser Bataillon sollte erst gegen 10 Uhr abrücken, und so durften wir die Zeit vorher zu kleinen Einkäufen in der Stadt verwenden; allerdings immer mehrere zusammen und unter Führung eines, der etwas französisch verstand. Zunächst habe ich mir bei einer Gemüsefrau einige saftige Birnen erstanden, sodann unter unglaublichen sprachlichen Anstrengungen in einem Fleischerladen ein halbes Pfund Sülze, weiterhin einige Ansichtskarten und schließlich bei zwei wunderhübschen Jüdinnen einige Tafeln Schokolade. Na, und wie wir so recht breitspurig über die Straßen stolziert sind und wie wir gar manchmal mit den Augen gerollt haben — — —

Um 10 Uhr, den 15. Oktober, stand unser Bataillon auf dem Marktplatz von Enghien zum Abmarsch bereit. Ganz wie daheim in Arnstadt. Und ringsum die Bürger und Bürgerinnen von Enghien; besonders die letzteren, ei, was haben die eine uns verständliche Augensprache geredet, keineswegs feindlich — doch darüber schon hier ein Wort: die belgischen Mädchen sind eben so schamlos wie sie schön sind. - Dann bekamen die Belgier einen heillosen Schreck, als plötzlich tausend deutsche Kehlen donnernd ihrem Major den Morgengruß zurückgaben.

Und schon rückten wir zum Tore hinaus mit festem Schritt und festem Sang. — Plötzlich Befehl: Laden und sichern! Vielleicht, daß man der [S. 282] Bevölkerung nicht trauen durfte; schon mancher deutschen Mutter Sohn war in diesem Lande der Kugel eines lauernden Bauern und sonstigen Franktireurs zum Opfer gefallen. — Uns gab das geladene Gewehr ein erhebendes Gefühl unseres Wertes; und wieder — wie ich's zu allen Zeiten da draußen gemerkt habe — gingen die unglaublichsten Gerüchte um über das, was uns bevorstehe.

Heiß war der Tag, zu heiß für einen des Oktobers, und der Schweiß rann von der Stirne und der Affe wollte manchem fast unerträglich werden. Längst schon hatten die meisten ihre Feldflaschen geleert, so daß Radfahrer vorausfuhren und die Leute anwiesen, Eimer mit Trinkwasser an den Weg zu stellen. Eigentlich war dies ein großer Leichtsinn! Wie leicht konnte solches vergiftet sein, was denn auch bei anderer Gelegenheit einem Offiziersburschen vom 2. Bataillon das Leben gekostet hat. — Schließlich gegen 2 Uhr mittags machten wir im Parke eines wunderschönen Schlößchens, dessen Tore wir gewaltsam erbrachen, eine längere Rast. Dann ging's weiter durch manches Dorf und manchen Bahnstrang, der dann stets von Landstürmern bewacht war, die unsere Feldpostsachen in Empfang nahmen, eine Höhe hinauf und wir sahen im Tal ein Städtchen liegen: Grammont4.


  1. In der Soldatensprache der Tornister aus Fell.
  2. Belgische Stadt nordwestlich Brain-le-Comte.
  3. Die St. Nikolaus-Kirche zu Enghien.
  4. Flämisch Geraardsbergen, Stadt in der belgischen Provinz Ostflandern, westlich von Brüssel.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Enghien · Brain-le-Comte · Arnstadt · Grammont · Geraardsbergen
Sachbegriffe: Meldereiter · Kirchen · Lebensmittel · Juden · Feldküchen · Majore · Franktireurs · Gewehre · Radfahrer · Feldflaschen · Landsturm · Feldpost · Tornister
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 11: Marsch von Enghien nach Geraardsbergen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-11> (aufgerufen am 25.04.2024)