Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 13: Märsche in der Gegend von Ophasselt

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So kamen wir beim Bataillon an, wo man schon anfing, sich um uns zu bekümmern. Unsere Kompagnie lag in der Dorfkirche. Dort haben wir denn noch bis spät unsere lustigen Abenteuer in Grammont erzählt und mancher hat's uns geneidet, daß wir schon etwas erlebt hatten. Dann bin ich in tiefen Schlaf gesunken; die Anstrengungen des Tages waren doch reichlich groß gewesen.

Schon strahlte die helle Herbstsonne durch die Fenster der Kirche zu Op-Hasselt, als wir uns allmählich zum Abrücken fertig machten. Da plötzlich, wir meisten reinigten eben Gewehre, hebt's droben, erst leise, fast zaghaft an, dann aber rauscht's brausend dahin im mächtigen Choral: „Ein feste Burg ist unser Gott". Und hier singt's einer mit und dort, und bald ist die ganze Kirche ein trutziges Lied. Und von draußen kommen sie, die Kameraden, und stimmen mit ein und selbst die Bewohner des Dorfes kommen und zuletzt gar ihr Pfarrer und stehen plötzlich mitten zwischen uns, die wir mit tiefster Andacht, wie sie nur in solchen Zeiten über den Menschen kommt, unsere alten, ewig jungen sieghaften Kirchenlieder beten.

Dann hinaus, gegen den Feind! Diese Märsche in Flandern, unvergeßlich sind sie mir. Breite Straßen, in der Mitte gepflastert, worauf sich allerdings eine Flügelrotte jeden Tag die Füße durchlief, zogen unsere Heere dahin durch ebnes, flaches Land, nirgends Wald, nur hier und da ein Hain, und längs der Straßen die hochwipfligen Pappeln. Wie die geschwätzig geplappert, wie da rings das Land im leichten Morgennebel geraunt hat: von alten Zeiten, wo oft der Krieg hier durchgebraust. Und ich sah sie im Geiste, die trutzigen Knechte des kühnen Burgunders1, heran marschieren, ihr schweres Landsknechtlied singend, sah Kaiser Max2, blondlockig jugendschön, auf schnaubendem Roß durchs grünende Land sprengen und neben ihm aus weißem Zelter sein wunder feines Lieb im seidenen Haar, der Heimat schönste Blume. — Und Schar an Schar drängt sich heran mit düsterm Blick und düsterm Kleid, mit ernstem stolzen Schritt und ihnen voraus, den Blick finster gen Norden gerichtet, der finsterste von allem Alba3 — So webt mir's der Morgennebel über flandrischem Land — ein Wegweiser zur Seiten: Oudenarde — Prinz Eugen4, der edle Ritter — Marlborough5 — und immer klingt's mir im Ohr: Prinz Eugen, der edle Ritter, Stadt und Festung Belgerad. — Und wir ziehen die alten Heeresstraßen wie jene vor hundert, hundert Jahren. — Und Schritt und Tritt und Tritt und Schritt wälzt Deutschlands unerschöpfliche Kraft sich gegen alle Feinde ringsum. So dröhnt der Schritt durch Pässe und Täler der Vogesen, so bebt das lothringsche Land unter ihm, und Hennegau und Flandern wird überwunden, so strebt der gleiche Schritt fern ostwärts der Weichsel Warschau zu und nicht hemmt der Karpathen hoher Kamm seinen Weg — im Schritt und Tritt und Tritt und Schritt, so marschieren wir dahin auf breiter, fester Straße. Unabsehbar, eine graue Schlange, wälzt sich der Zug dahin. Schon ist unser Regiment zusammen und die Brigade ist am Vereinigen; immer enger wird die breite Straße. Rechts marschiert die Infanterie, meist das Gewehr am Riemen um den Hals quer über die Brust gehängt; links fährt Artillerie im rasselnden Trab, und die Mitte der Straße bleibt frei für Ordonnanzen und die hin- und zurücksausenden Autos der Generalstäbler und die Flüchtlinge.


  1. Herzog Karl der Kühne von Burgund (1433-1477).
  2. Kaiser Maximilian I. (1459-1519).
  3. Herzog Fernando von Alba (1507-1582), Unterdrücker der niederländischen Freiheitsbewegung.
  4. Prinz Eugen von Savoyen (1663-1736).
  5. Der Herzog von Marlborough (1650-1722), britischer General im Spanischen Erbfolgekrieg.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Grammont · Geraardsbergen · Ophasselt · Flandern · Oudenarde · Vogesen · Hennegau · Warschau · Karpaten
Sachbegriffe: Kirchenlieder · Infanterie · Artillerie · Autos · Flüchtlinge
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 13: Märsche in der Gegend von Ophasselt“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-13> (aufgerufen am 28.04.2024)