Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 16: Lange Märsche in Westflandern

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G.C. Und die Morgensonne stieg auf über dem flandrischen Land, so strahlend und leuchtend als dächte sie des 18. Oktobers noch einmal, wie er einst zum großen Tage geworden, und wieder, als lache sie über Menschen und Menschentreiben, denkt sie des, was sie vor einem Jahre zu Füßen des ragenden Males in Leipzigs Flur1 gesehen. Sonntag lag über dem ganzen Land, und die dunkelbraunen Backsteinbauten der niedrigen flandrischen Häuser sahen so viel weniger öde und herbstlich aus, und vor den Türen die Menschen im Sonntagskleid. ... Aber die andern, die andern, die da gehetzt und müde fast zu Boden gedrückt ruhelos an uns vorübereilen, rückwärts ...

Merkwürdig, der Marsch will heute gar nicht das rechte Tempo finden. Alle Augenblicke ein Stocken und Halten. „Gewehr ab!" „Setzt die Gewehre zusammen!" ... Kaum ist's geschehen und wir wollen's uns im Graben und Rübenfeld bequem machen, da tönt's schon wieder: „An die Gewehre!" — „Gewehr in die Hand!" ... Und 100 Meter weiter dasselbe Spiel auf vollgestopfter Heeresstraße. Wieder ein langes Halten; rechts drüben im fernen Nebel eine größere Stadt mit vielen Türmen — ob's Thielt2 war? — Links vor uns am Wege ein hohes Kreuz mit dem Erlöser, der ernst und mild herniederschaut wie all die viel hundert Heiligen, an deren Bild wir vorüberkamen auf unserm Marsche. Da plötzlich läuft's wie eine elektrische Welle von vorn her durch unsere Reihem „Ostende gefallen!" Und schon kommt unser Hauptmann und bestätigt's. Noch sind wir im Jubel und Reden von dem, was nun unser Ziel ist; denn mehr und mehr glaubten wir, daß es nach dort ginge. Da der Befehl: „Kehrt marsch!" Und mit Mann und Roß und Wagen zieht unsere ganze Division den Weg zurück. Dieses Drängen und Schieben, wie die Wagen und Geschütze wenden. .. Dies Leben und Fragen und Meinen .. . „'s geht zurück! nach Rußland kommen wir" ... und was weiß ich sonst. Zurück! Irgendeiner singt ein Lied: „Leb wohl, du mein flandrisch Mädchen" ... Alles ein seltsam Gefühl! Und wie uns die Leute am Wegrande ansahen ... Den ganzen Sonntag zurückmarschiert ... Wohin? ...

In einem Dörfchen, abseits der Straße, nahm unser Bataillon Quartier und meine Kompagnie kam in ein Einzelgehöft zu zwei noch jungen Bauersleuten. Ich habe leider nicht den Namen dieser Ortschaft erfahren können. Diesen linden Herbstabend will ich zu meinen schönen Erinnerungen rechnen. Als es zu dunkeln begann, zündeten wir ein riesiges Wachtfeuer an, um das wir uns ringsum lagerten, mitten unter uns unser lieber Hauptmann. Und haben gescherzt und gesungen fröhliche Lieder und den Rundgesang gehen lassen, und der Hauptmann sang auch seinen Vers. Dann mußte unser Gefangener antreten. Gestern hatten sie ihn bei der Bagage aufgegriffen als Spion, der eine graue Uniform trug, jedes Stück von einem andern Regiment, und von militärischen Dingen gar nichts verstand, 's wird ein echter Landstreicher gewesen sein, der in der Uniform hinter der Heeresfront zu räubern gesucht. Also dieser Gefangene mußte herkommen und, weil er ein waschechter Bayer war, jodeln und Schuhplattler tanzen. War das eine Heiterkeit. ... Und dann sangen wir die alten, ernsten, ewig-jungen Soldatenlieder ... und der Hauptmann fand ein schönes Wort ... und unser kleiner Kompagnieschuster mit seinem weichen Tenor hat so selig in die Nacht hinausgejubelt vom Vöglein, das im Lindenbaum sang — und ernst und ernster ward die Stimmung rings um das verlohende Lagerfeuer.... Schon wollten wir von hinnen gehen, da stimmte einer so von ungefähr an und alle sangen ahnungsvoll mit ihm: „Morgenrot, Morgenrot leuchtest mir zum frühen Tod."3 ...

Und seltsam, als wir am ändern Morgen, den 19. Oktober, schon früh um 4 Uhr abrückten, da sangen wir dasselbe Lied, das wir gestern nacht, uns trennend, angestimmt....


  1. D.h. zu Füßen des 1913 eingeweihten Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig.
  2. Tielt, Stadt in der belgischen Provinz Westflandern, südlich Brügge.
  3. Reiters Morgenlied von Wilhelm Hauff (1802-1827).

Personen: Weidemann, Wilhelm · Hauff, Wilhelm
Orte: Flandern · Leipzig · Tielt · Brügge · Oestende · Rußland
Sachbegriffe: Völkerschlachtdenkmal, Leipzig · Gewehre · Kriegsgefangene · Spione · Uniformen · Soldatenlieder
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 16: Lange Märsche in Westflandern“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-16> (aufgerufen am 30.04.2024)