Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 19: Aufenthalt in Oostnieuwekerke in Flandern

[315-316]
Selten habe ich wohl so tief und fest geschlafen wie in der Nacht von diesem 19. Oktober zum 20. Noch im Dunkeln rückten wir am 20. aus. Das war also unser erstes Gefecht gewesen und dazu gleich ein Straßenkampf. Aber merkwürdig, meine Kompagnie hatte nur einen einzigen Verwundeten, sonst war alles unversehrt. Ich selbst hatte nur leider den rechten Fuß beim Sprung über einen Graben etwas vertreten, so daß ich stark hinken mußte. Als mich so mein Hauptmann sah, dem ich am Sonntag einiges aus meinem Tagebuche vorgelesen hatte, schrieb er mir eine Anweisung und schickte mich zur Schonung zur Gefechtsbagage.

So war ich denn für den Tag bei der Bagage und lernte auch hier den Betrieb einmal kennen.

Langsam nur ging's an diesem trüben, nebligen Dienstag vorwärts. Rings vor uns anhaltender und stets stärker werdender Kanonendonner; hier und da hörten wir das Knattern des Infanteriefeuers. Gegen Abend setzte ein feiner Regen ein, der uns nach und nach durchnäßte. Durch Ostneukirchen1 ging's, wo allenthalben die Häuser verlassen waren und Türen und Tore gewaltsam von den Unsern erbrochen und aller Hausrat, besonders Stühle, vor die Tür gesetzt war, damit drinnen mehr Raum zum Kampieren war. Weiter ging's die Landstraße, um die schon der Kampf, vielleicht erst vor Stunden, getobt hatte. Granaten hatten den Boden aufgerissen und Häuser am Wege entzündet, die mit dunkel flammendem Licht die steigende Dämmerung lichteten. Da hart am Straßenrande ein Pappelstumpf; eine Granate hat den obern Stamm und die Äste weggerissen, dicht über einem Muttergottesbildchen, das fromme Hände an jenen Baum geheftet: so steht noch der Stumpf und an ihm die Mutter Gottes, unversehrt, und ihr Blick sieht doppelt weherfüllt auf das brennende, dampfende Land, über dem der Krieg mit feurigem Arm die alles verzehrende Fackel schwingt. ..

Und die Nacht steigt und grausig leuchtet der Umkreis im schaurig-schönen Brand, der Dorf und Stadt zu Asche werden läßt. Unvergeßlich jenes Bild: auf dem Hügel die in feurige Glut vollkommen getauchte Windmühle, und von der furchtbaren Hitze getrieben drehen sich langsam die Flügel. ... Nacht! Nacht des Krieges. ...

An diesem Abend kam die Bagage nicht mehr zur Kompagnie oder nur zum Regiment, wie ich wenigstens gehofft; die Straße war so verstopft, daß wir schließlich weder vorwärts noch rückwärts [S. 316] konnten, und einfach auf das nächste Ackerfeld fuhren, um den hin- und herrasenden Artilleriemunitions-Kolonnen Raum zu geben und den Morgen zu erwarten, der nicht mehr ferne sein konnte. Da in der Frühdämmerung, halb verschlafen lehnten wir an den Wegen, kam plötzlich die Meldung: „Die Bagage wird von englischer Kavallerie angegriffen." ... In der Tat, im Halbdunkel sahen wir sie anreiten, etwa eine Schwadron englischer Dragoner. Wir schnell zum Schuß fertig und pfeifend den Engländern unsern Morgengruß zugesandt! Der war ihnen denn doch zu sicher und kräftig, als daß sie sich weiter mit uns eingelassen hätten, und ebenso plötzlich wie sie aufgetaucht, verschwanden sie wieder im Morgennebel, nachdem sie nur ganz schwach und völlig erfolglos unser Feuer erwidert.

Diese Episode hatte gezeigt, daß die Bagage zu weit vor war. Und so kam der Befehl zum Zurückgehen bis in ein nicht fernes Dorf. Vergebens bat ich den Bagageführer, zu meiner Kompagnie abgehen zu dürfen. Da unbestimmt sei, wo die liege, müsse ich hier bleiben. In dem Dorf, in dem wir hielten — es war wohl Westneukirchen2 — war kaum ein Bewohner geblieben. Und da ich Zeit hatte, bin ich in den verlassenen Häusern herumgegangen, habe überall das hungernde Vieh losgebunden und die Türen geöffnet, daß es im Freien sich Nahrung suche. Was ich da so alles fand: in einer Stube, einer Mädchenstube, offene Schränke und Truhen, ein Konfirmationskleid mit feinen Spitzen und Blumen, längst verdorrte und ein zierlicher Rosenkranz: in der Küche das Essen halb gar auf dem schönen, stets blankgescheuerten flämischen Herde. Die Wohnstube mit Zeitungen auf dem Tische und einem offenen Gebetbuche mit vielen Heiligenbildern.... Und wieder ein Kaufladen mit ringsum zerstreuten Waren und Duft von moderndem Etwas und ein Estaminet mit umgestürzten Tischen und Stühlen und halb gefüllten Biergläsern, auf einem Spieltisch ein Kartenspiel. Und wieder zerbrochene Spiegelscheiben und Läden und Schränke in Unordnung ... und tiefe Ruhe, Ruhe wie der hundertjährige Schlaf, den Dornröschens Schloß-Staat hielt. Aber ich kam mir nicht vor wie der Prinz, der umherwandelt... Und schaurig hallte in dieser Stille ferne der grollende Donner des Krieges.... Trat wieder in ein Haus, das war noch bewohnt. Über der Tür hing ein weißer Wimpel, und ans Haus hatten ungelenkige Soldatenhände geschrieben: „Gute Leute, schonen!" Fand drinnen drei steinalte Mütterchen, tieftraurig, zu schwach, als daß sie hätten wie alle die andern fliehen können. Gaben mir dampfenden Kaffee und ich schenkte ihnen mein halbes Brot, denn sie hatten nichts mehr zu essen. Und die drei haben vor Dankbarkeit geweint. ...Und wieder dachte ich an die drei Schuster zu Denderghem, und hier die drei alten, eisgrauen Mütterchen ... und dachte so eigen, und schwer ward mir's ums Herz ... Das ist der Krieg! —


  1. Oostnieuwkerke, 5 km westlich von Roeselare.
  2. Westnieuwekerke.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Oostnieuwkerke · Westnieuwekerke · Denderghem
Sachbegriffe: Straßenkampf · Verwundete · Tagebücher · Gefechtsbagage · Bagage · Kanonendonner · Infanterie · Häuserkampf · Granaten · Munitionskolonnen · Engländer · Dragoner
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 19: Aufenthalt in Oostnieuwekerke in Flandern“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-19> (aufgerufen am 30.04.2024)