Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 20: Suche der Einheit, Wiedersehen mit Bekannten

[328-329]
G.C. Gern empfing ich in dem Augenblick den Befehl, die Straße immer weiter zurückzugehen und die große Regimentsbagage herbeizuholen. Was sah ich alles auf diesem Gange! Alle die Munitionskolonnen, die schweren und die leichten, die hin und von der Front rasten, die schweren Schanzwagen der Pioniere und ihr langer Brückentrain. Dann wieder ein Fußartillerieregiment, das sich nur schwer zur Front durchdrängen konnte; und was mir die Kanoniere erzählten, die schon Antwerpen hatten brechen helfen. ... Aber meine Regimentsbagage, die fand ich nicht! Ganz zuletzt sah ich sie, die so gründlich verfahren war, daß ich heute noch nicht weiß, ob sie je den von mir überbrachten Befehl hat ausrichten können!

Ich kehrte zu meiner Abgangsstelle zurück. Doch der Weg war weit, an 4 Stunden war ich wohl auf Suche, die Oktobersonne heiß und nirgends ein Tropfen Wasser. Da komme ich gerade an einem Trainzuge vorüber und ein Kamerad, der mir den Rücken zukehrte, läßt mich so verlockend seine Feldflasche sehen, daß ich an ihn herantrete und auf seine Schulter klopfe: „Du, Kamerad, einen Schluck!" — Dies freudige Auflachen auf beiden Seiten: wer steht vor mir? — ein lieber Bekannter aus Kinder- und Schulzeit: Otto El. Na, das war ein Begrüßen und Fragen und kurzes Erzählen. ... Aber so ein Zusammentreffen! Dann hat er mir eine Flasche Wein aus seinem Wagen gelangt und ein Stück Wurst dazu. — Train kennt keine Not — und ich bin gestärkt weiter gestolpert.

Unterwegs begegnete mir noch ein Trupp von ungefähr 100 gefangenen Franzosen, die eben auf einer nahen Wiese jeder ein Brot empfingen. Desgleichen sah ich allerdings mit ändern Gefühlen zahlreiche Leichtverwundete von der Front nach hinten kommen. Von einem erfuhr ich, daß auch mein Bataillon ins Gefecht gerückt sei, und bei der kleinen Bagage hörte ich dann, daß meine Kompagnie ein kleines Feuergefecht bestanden und einige Verwundete habe. Unter diesen befand sich auch der neben uns zu Hause wohnende Kurt P.

Man kann sich wohl vorstellen, welche Gefühle mich bewegten, als ich von dem gehört hatte. Und als wir diesen Abend wieder nicht zur Kompagnie kamen, beschlossen ich und mein Kamerad Sch., dem's hinten bei der großen Bagage keine Ruhe gelassen hatte, uns auf alle Fälle zur Kompagnie [S. 329] zu begeben und, wenn's nicht anders gehe, heimlich uns von der Bagage wegzuschleichen. Diese Nacht vom 21. zum 22. Oktober ging's nicht mehr, da die Straße so verstopft war, daß niemand vor noch zurück konnte. Und da ich wie alle ändern sehr müde war, so haben wir fest und tief im Straßengraben geschlafen, ohne Mantel und Zelt!


Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Antwerpen
Sachbegriffe: Bagage · Munitionskolonnen · Schwanzwagen · Pioniere · Brückentrain · Fußartillerie · Kanoniere · Wein · Wurst · Kriegsgefangene · Franzosen · Verwundete
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 20: Suche der Einheit, Wiedersehen mit Bekannten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-20> (aufgerufen am 30.04.2024)