Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 34: Rücktransport in ein Lazarett in Kassel

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Deutsche Sanitäter und deutsche Schwestern, deutsche Frauen . . . . o, wie so ganz anders sind die als alle die Weiber, die wir in den letzten Wochen gesehen . . . und heiliger Ehrfurcht voll habe ich Walters Wort ganz still wie ein Gebet gesprochen . . . Namur! Diesmal bei Tage! Ein prächtiges Städtchen am Zusammenfluß der Maas und Sambre und oben, das ganze Tal beherrschend, in Trümmern jetzt, die Zitadelle: sie brach vor deutscher Stärke. — Nach kurzem Aufenthalt, bei dem jedesmal die wegen ihrer Wunden nicht länger Transportierbaren ausgeladen wurden, ging's weiter. . . . Lüttich! Irgendwo schläfst du den ewigen Schlaf, mein Günther; daß Dir in Deine Ruh mein Gruß gedrungen ist: „Bleib Du im ewigen Leben mein guter Kamerad . . ."

Mittwoch, den 4. November, haben wir im Morgengrauen die deutsche Grenze überfahren.

Was soll ich noch schildern, wie könnte es mir gelingen! Wie wir in den nebelgrauen Morgen auf dem Bahnhof zu Aachen „Deutschland, Deutschland über alles" gesungen haben aus überquellendem Herzen, so gar nicht niedergeschlagen, wenn schon der Körper wund. . . . Wie wir bei Düsseldorf über den alten Vater Rhein gefahren sind und der uns seinen Gruß gesandt, daß wir so treu die Wacht gehalten. . . . Wie uns in Essen von Krupp ein so origineller Empfang bereitet wurde, indem uns eine Kapelle ein lustig Lied vorspielte, wie ich ebendort zwei Krücken empfing und einen gestickten Pantoffel. ... Wie ich gejauchzt habe, als ich die Heimatberge wieder sah und den Alten1 droben auf dem Habichtswalde. . . . Und dann fand ich Dich, liebe Mutter, auf dem Bahnhof und bin Dir ans Herz gesunken: wieder daheim aus Not und Tod! . . .

Und dann bin ich ins Reserve-Lazarett Katholisches Lyzeum gekommen im stillen Akazienweg. Und der Arzt, Geheimrat Dr. R., hat meine Wunde behandelt, wo zwar Adern durchschlagen und Sehnen gequetscht, aber nur wenig der Knochen verletzt war. Und wie der Vater mich zuerst besuchte und dies Wiedersehen. . . . Und die ehrwürdige Schwester E., wie die mich gepflegt und mit Liebe überschüttet bis zu dieser Stunde, daß ich ihr Schuldner bleibe allewege. . . .

Alle die Liebe und die Güte, die mich getroffen, wer kann sie in Worte fassen! . . .

So bin ich besser und besser geworden. Die Stille des Lazaretts hat mich durchdenken lassen, was ich draußen erlebte. Vielleicht, daß vieles davon schon in diesen Blättern enthalten ist. Vielleicht, daß sie dadurch an Wert gewinnen! ... —

— Und dann wird der Tag kommen, wo ich zum andern Male hinausziehe, wie so mancher meiner Kameraden. Stiller geschieht's vielleicht, aber der Mann ist nicht weniger wert denn ehedem.

Mag Gott mit mir sein, wie er mit mir war bis aus diesen Tag!


  1. D.h. den Herkules über Kassel.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Namur · Maas · Sambre (Fluss) · Lüttich · Aachen · Düsseldorf · Essen · Habichtswald · Kassel
Sachbegriffe: Sanitäter · Verwundete · Krankenschwestern · Nationalhymnen · Deutschland, Deutschland über alles · Lazarette
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 34: Rücktransport in ein Lazarett in Kassel“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-34> (aufgerufen am 18.04.2024)