Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 27: Nationalistische Deutungen der schweren Verluste

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G. C. Diese Nacht zum Sonntag blieben wir also zur Bedeckung der Munitionskolonne. Am andern Morgen brachen wir frühzeitig auf und versuchten, mit dem Revers des Artillerieoffiziers nach vorn zu kommen. Plötzlich trafen wir den Burschen unseres Hauptmanns, der ganz allein unsere Kompagnie suchte. Der brave Heinrich wußte überhaupt noch nichts von unserm Gefecht von vorgestern und war ganz erschüttert. Weil er aber den Weg wußte, gelangten wir rasch vorwärts und bald waren wir bei der Kompagnie. War das eine Freude und Erzählen; hatte man uns doch und vor allem der Hauptmann schon tot geglaubt.

Wir kamen auch gerade recht: unsere Kompagnie wollte soeben zum Appell antreten, ehe sie zur Verstärkung des Schützengrabens hinter den gegen Sicht deckenden beiden Häuschen herausging; zum ersten Appell nach dem schwarzen Tag von Langemarck am 23. Oktober! Ein banger Augenblick! Ach, dem fehlt der Nebenmann und dem und dem ... Und als der Hauptmann mit schluckender, abgebrochener Stimme sagt: „Die Kompagnie hat am Freitag 92 Mann verloren", da ist doch über manche Wange eine Träne gekollert. ... Der 23. Oktober! ...

Wie kann ich sie schildern, die nächsten Tage im Schützengraben, die Tage voll Not und Tod und Grauen und Entsetzen! Und doch: der Mensch kann vielmehr durchmachen als er denkt und alles tragen und alles leisten, wenn in ihm, wenn in deutschem Herzen der Gedanke ans Vaterland herrlich und einzig lebt und an alles, was deutscher Art und deutschen Wesens ist, an denen doch noch einmal die Welt genesen soll. Das ist es, was den deutschen Soldaten zu dem macht, was er ist, daß er wie sein Volk von jeher sich einer Idee ganz hingeben kann; wo andere Völker höchstens Zivilisation verbreiten, wird er durch jene Fähigkeit zum Träger wahrer Kultur. Nicht Wille zur Macht beseelt uns, sondern der Wille zum Wert ist unser Führer. Innigkeit und Erhabenheit ist das Merkmal deutschens [!] Wesens genannt worden, und bei aller kriegerischen Tüchtigkeit hat doch das deutsche Volk auf den Hochwegen der Weltgeschichte — um mit einem Wort meines großen Lehrers zu sprechen — die geistigen Elemente siegen lassen. Völkerwanderung und Reformation, das waren die größten Taten, denen sich dieser Krieg anschließt, der das deutsche Volk zum ersten im Rate der Völker machen soll. Das ist der Wille zum Sieg, das ist's, was in all' den Tausenden lebt, die deutsche Waffen führen; unbewußt vielleicht in vielen, ohne darum weniger mächtig zu sein, denn die gar nicht denken, sind der Wahrheit von jeher näher gewesen als der, der nicht zu Ende gedacht hat. Das ist's, was freudig den Heldentod fürs Vaterland sterben läßt. Wer sein Leben für das Gute und das Rechte auf Erden und dessen Zukunft ohne Zögern einsetzt, der hat damit den Gipfel seiner Entwicklung erreicht; darüber hinaus gibt's nichts, was dem an Selbstlosigkeit, Größe und Liebe gleich sei. Das ist wahr und wahrhaftig gewiß:

„Kein schönerer Tod in dieser Welt,
Als wer auf grüner Heide fällt"1.

Ewig werden sie leben, schön und unvergessen, in der Blüte und durch die Frucht, deren Saat sie blutig und eisern gesät. . . .


  1. Kein schönerer Tod auf dieser Welt, Volkslied des 17. Jahrhundert, Text von Daniel Georg Morhof 1682, Musik von Friedrich Silcher.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Poelcapelle · Langemark
Sachbegriffe: Artillerie · Munitionskolonnen · Schützengräben · Nationalismus · Deutsches Wesen · Soldatenlieder
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 27: Nationalistische Deutungen der schweren Verluste“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-27> (aufgerufen am 02.05.2024)