Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 33: Verwundetentransport von der Front nach Brüssel

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Heimwärts, heimwärts eilen die Gedanken, zu all dem, was die Heimat lieb und teuer macht. Und der Nebel webt um mich her, und ich sinne und träume und weiß kaum, daß ich verwundet bin: Flandrisch Land, leb wohl, leb wohl . . . was habe ich auf deiner Flur erlebt, was ließ das Schicksal bei dir, auf deinem Boden reifen und werden ... Langsam rüttelt der Wagen vorwärts, von Zeit zu Zeit ein Ruf des Rosselenkers, und ein wehes Stöhnen aus dem Wageninnern . . . und die Nacht ist kühl: „und die Rosse schnoben, und ich dachte der Toten, der Toten . . ."

Nach Stunden sind wir in Westrosebeecke. Das Lazarett ist überfüllt und kann nur die Schwerverwundeten aufnehmen. Schimpfend und fluchend fährt der Wagenführer mit uns andern weiter. Ich freue mich innerlich: immer näher kommst du der Heimat. Vorbei geht's an den schlafenden Proviantkolonnen, die endlos die Straßen hinter der Front füllen. Langsam geht der Posten auf und nieder und grüßt uns mit stummem Gruß. Einmal nur bricht der Kutscher neben mir das Schweigen und deutet auf eine dunkele Masse im Waldesschatten: „Die österreichischen Motorbatterien." Freudig grüße ich sie und rufe es im Geiste ihnen zu: „Daß ihr doch bald vor Calais und Dünkirchen samt eurer Schwester, der dicken Berta, donnern könntet und weiter dann England drüben grüßen..."

Endlich nach Mitternacht finden wir Unterkunft in einem Feldlazarett zu Ostneukirchen. Schrecklich dieser Rest der Nacht: das Stöhnen und Ächzen der Unglücklichen, und in der Mitte am blutigen Tisch die Ärzte bei fleißiger Arbeit. .. .Es hat mich geschauert: nur bald weg von hier. . . .

Am andern Morgen glückte es mir, mit dem ersten Transport weitergeschafft zu werden. O, diese Fahrt in einem stoßenden, belgischen Bauernwagen auf holprigem Pflaster! Aber es ging der Heimat zu! Mittags fuhren wir in Roulers ein, die Stadt, die noch immer die deutlichsten Spuren der Kämpfe zeigte, die wir hier am 19. Oktober bestanden. Doch schon sah man wieder Menschen, die ruhig ihrer Beschäftigung nachgingen. Wieder Anblick auf uns wirkte, die wir so lange keinen Zivilisten gesehen. . . .

Wir wurden sofort verladen, und um 2 Uhr mittags fuhr der Zug ab! Den Jubel! Wer hätte in dem Augenblick Schmerzen gefühlt! „Nach der Heimat, nach der Heimat . . .!" In meinem Abteil lag ein Jäger, der hat seinen Piston1 geblasen so jubelnd und so ergreifend wieder: „Ich hatt' einen Kameraden . . ." Und uns wurden die Augen feucht! . . .

Rasch ging die Fahrt; doch schneller noch flogen unsere Gedanken. . . . Am selben Abend noch erreichten wir Gent und konnten uns endlich einmal satt essen. Dann weiter durch Feld und Wald und Dorf und Stadt . . . überall sahen uns die Bewohner an: manche Mitleid im Blick, die meisten eine Schadenfreude, die sie nur schwer verhehlen konnten. — Brüssel! Fast eine Stunde fahren wir durch die weiten und volkreichen Vorstädte. . . .


  1. Ein Kornett (Musikinstrument).

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Westrozebeke · Calais · Dunkerque · Oostnieuwekerke · Roeselare · Gent · Brüssel
Sachbegriffe: Lazarette · Schwerverwundete · Proviantkolonnen · Motorbatterieb · Dicke Berta · Feldlazarette · Pistons
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 33: Verwundetentransport von der Front nach Brüssel“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-33> (aufgerufen am 02.05.2024)