Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 21: Leichen und Zerstörung in der Kampfzone in Flandern

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Am andern Morgen, den 22. Oktober, traf es sich zur Ausführung unseres Planes recht günstig, daß Oberleutnant R. persönlich mit vier Wagen zur Front fahren wollte, um den lieben Kameraden — wie er sich ausdrückte — etwas Magenproviant zu bringen, was allerdings gar nicht nach Wunsch derer bei der Bagage war. Fluchend, schimpfend, befehlend suchten unsere vier Wagen nach vorn zu kommen. Endlich erreichten wir freies Feld, schon aber traten wir damit ins Bereich der Geschosse. Überall aufgewühlter Boden und zahllose nicht explodierte Granaten, sogenannte Blindgänger, lagen umher. Und bald sollten wir's in grauenhafter Weise sehen, wie hier gekämpft war. Rechts von der Straße ein verlassener französischer Schützengraben: bis zum Rande gefüllt mit Toten, blutig und bleich, die Glieder starr und steif, die Fäuste geballt und die Finger im letzten Todeskampfe in den Boden gekrallt. Der Graben halb eingestürzt und die Leichen zum Teil verschüttet. ... Und ein atemraubender Geruch nach Blut und Tod. ... Entsetzt haben wir uns von dem Bild abgewandt.

Immer wüster wurde das Bild um uns her. Weggeworfene Tornister, Helme, Käppis, Gewehre von Freund und Feind lagen in Masse da umher; bisweilen auch der hochangeschwollene Kadaver eines Pferdes. ... Und längs der Straße frische Gräber. Mit Blumen geschmückt, ein kleines Holzkreuz, auf dem der Name des Tapferen geschrieben, seine Kompagnietroddel wohl ums Kreuzlein geschlungen und der Helm unter die herbstlichen Blumen aufs Grab gesetzt; so schläft er dahin den seligen Soldatentod. ... Grab an Grab in langer Reihe.

Plötzlich platzten, als wir eine Höhe erreichten, nach vorn Schrapnells in unmittelbarer Nähe von uns und zugleich hörten wir dicht vor uns Infanteriefeuer. Unsere Wagen bogen deshalb nach rechts ab, um in dem nahen Dorfe — es war Westrosebeeke1 — Schutz zu suchen.

Von hier aus sind wir beiden, Sch. und ich, heimlich weggelaufen und haben uns, da wir die ungefähre Richtung wußten, auf die Suche nach unserm Regiment gemacht. Andauernd kamen uns Verwundete der verschiedensten Regimenter entgegen; die leichter Getroffenen sich gegenseitig oder aufs Gewehr und Stöcke stützend, die aändern auf Tragen und Sanitätswagen. Was die uns erzählten, ruhig und ernst, vom Kampf mit Engländern, Bajonettkämpfen, wie die Franzosen geflohen seien, die Engländer aber Stand gehalten hätten. — Und in der Tat, dem ist so; wie gänzlich haben wir doch den englischen Soldaten unterschätzt; mit dem Wort „Söldner" ihn abtun wollen, aber dabei vergessen, daß er Berufssoldat ist und sein Handwerk 7 oder 10 Jahre und länger jeder von ihnen schon betrieben hat, wer weiß, auf welchen Kampfplätzen des weiten englischen Kolonialreiches. Wie läppisch die Sitte, Witzpostkarten herzustellen, die den Anschein erwecken, als laufe der Gegner, sobald er nur eine Helmspitze von uns sehe, ganz abgesehen davon, wie wenig Würdigung der Leistung unserer Truppen in solchen Darstellungen liegt, die man sich nicht gescheut hat, sogar als Grüße aus der Heimat an uns zur Front zu senden.


  1. Westrozebeke, Westflandern, 9 km westlich von Roeselare.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Antwerpen · Westrozebeke · Roeselare
Sachbegriffe: Oberstleutnante · Proviant · Bagage · Granaten · Blindgänger · Schützengräben · Gefallene · Leichen · Tornister · Helme · Gewehre · Kadaver · Pferde · Gräber · Schrapnells · Verwundete · Engländer · Bajonettkämpfe · Franzosen · Witzpostkarten
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 21: Leichen und Zerstörung in der Kampfzone in Flandern“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-21> (aufgerufen am 30.04.2024)