Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 15: Marsch durch die flandrischen Orte Deinze und Detergem

[297-298]
Bei Deynce1 kamen wir über einen großen Fluß, auf dem zahlreiche Schiffe und Lastkähne lagen; ich nehme an, daß es die Schelde war2. Die Brücke selbst war von unsern Pionieren mit großem Geschick wiederhergestellt, nachdem sie vorher von einer feindlichen Patrouille gesprengt worden war. Kurz hinter Deynce machten wir endlich größere Rast. Schon längst war Mittag vorüber. Die meisten lagen müde neben dem abgehängten Gepäck, das in gleicher Ordnung wie die tadellos ausgerichteten Gewehrpyramiden die eine Straßenseite einnahm. Drüben begann der Sanitäter seine Arbeit und der Assistenzarzt schnitt die Blasen an den zerschundenen Füßen auf. Andere von uns machten sich in den nächsten Häusern zu schaffen, wo sie für Geld und gute Worte ihren Hunger und Durst stillen konnten, am ehesten in jenem Hause, dessen Wirtin von Geburt eine Hannoveranerin war.

Spätnachmittags dieses strapazenreichen Sonnabend langten wir in unserm Quartier zu Denderghem3 an. Wieder erhielt meine Kompagnie die Pfarrkirche zugewiesen, die zu öffnen nicht ohne Schwierigkeiten vor sich ging: mit vorgehaltenem Revolver nur ließ sich der Pfarrer dahin bringen, die Schlüssel herzugeben. Er hat's bereut, daß er uns für solche Barbaren gehalten, als am andern Morgen wie einst zu Op-Hasselt unser Choral feierlich zu seiner Pfarrwohnung hinüberdrang und die Denderghemer unter uns standen und in ihrer Sprache das alte: „Wir treten zum Beten vor Gott, den Gerechten"4 mitsangen. Schnell die Betstühle zusammengestapelt und dicht Stroh zum Lager aufgehäuft, denn der Kirchenboden war eisigkalt.

[S. 298] Draußen im Ort wollte ich noch einige Einkäufe machen, da kam ich in ihr Haus zu den drei Denderghemer Schustern. Drei „närrsche Kerle", wie unser Dialekt sagt: Alle drei Junggesellen, alle drei fast gleichaltrige Dreißiger, alle drei unter einem Dache wohnend, alle drei Schuster. Zu denen kam ich mit einigen Kameraden. Haben uns die bewirtet: Kaffee gekocht, Butterbrote zurechtgemacht, Zucker und Milch dazugestellt, Wurst uns verkauft, dicke, harte, tiefdunkelrote, fast schwarze Wurst (und doch hat sie gut geschmeckt!). Und dabei geschäftig und bedacht auf alles, was sie uns nur von den Augen ablesen konnten. Ängstlich und bittend fast uns ansehend ... Und dann haben sie erzählt... Der Älteste von ihnen sprach leidlich deutsch, wenn schon wir nach und nach uns auch auf flämisch verständigen konnten, und erzählte von den Tagen, da er auf „Walze" durch Deutschland gekommen, und von den Engländern, die vier Tage zuvor hier gewesen seien und so gar nicht als Freunde .. . und was wir Deutschen als starke Kerle für Eindruck auf sie machten, wie sie gegen uns doch nicht bestehen könnten, und woher wir zu so Tausenden kämen.. . und wie der Krieg ein Unglück sei, der uns keinen Segen brächte, wie sie in Armut und Leid versinken müßten, und Hunger und Not sie weinen ließe, sie, die Armen ... ja, die Reichen, die seien, so's noch Zeit war, mit ihrer Habe nach London oder Paris geflohen ... aber die Armen, denen der Krieg das Letzte nähme ... — Und dabei arbeiteten die Dreie und beschlugen unsere Stiefel. Und als gar einige von uns sich ihnen als Kollegen offenbarten und nun nach ihrer Art das Werkzeug handhabten, da war das Hin und Her ohne Ende…

Mir aber war's ganz seltsam zu Mute, als ich die drei Schuster von Denderghem verließ und über den Kirchplatz ging, wo dicht gedrängt Geschütz an Geschütz stand, und in die düsterhelle Kirche trat. Still habe ich mich ins wärmende Stroh gewühlt, aber lange wollte kein Schlaf kommen. Unverwandt starrten meine Augen zum Muttergottesbilde im goldblauen Rahmengrunde mir gegenüber, und schwer, wie die drei Kerzen der Heiligen zu Füßen flammten, gingen meine Gedanken.... In derselben Nacht noch hörte ich dumpf in weiter Ferne langsamen Kanonendonner.


  1. Deinze, belgische Stadt südwestlich von Gent, Ostflandern.
  2. Durch Deinze fließt die Lys (Leie), von der der Bossuit-Kortrijk-Kanal zur Schelde abgeht.
  3. Dentergem Ort südwestlich Deinze.
  4. Es handelt sich um das auch in Deutschland gesungene sog. Altniederländische Dankgebet. Siehe Wikipedia-Artikel

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Deince · Schelde Bossuit-Kortrijk-Kanal · Lys (Fluss) · Dentergem · Ophasselt
Sachbegriffe: Schiffe · Pioniere · Gewehre · Sanitäter · Ärzte · Kanäle · Kirchenlieder · Engländer · Belgier · Geschütze · Kanonendonner · Altniederländisches Dankgebet
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 15: Marsch durch die flandrischen Orte Deinze und Detergem“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-15> (aufgerufen am 30.04.2024)