Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 10: Eisenbahnfahrt nach Brain-le-Comte

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Gegen Mittag [am 14.10.1914] hielten wir in Geaussinues-Carvières1, und zwar so lange, daß wir die Wagen verlassen und in den Ort einiges Wegs hineingehen konnten. Mit unglaublichstem Wagemut wurde da von uns französisch geredet, und die am wenigsten davon verstanden, waren die Vorlautesten. — Unser Naturmensch, der G., hat sich wohl heiser geredet mit seinem unermüdlichen, für alles tauglichem oui! oui! - Von mir selbst kann ich getrost sagen, daß ich sprachlich besser durchkam als ich gedacht, zumal ich im Besitze eines recht handlichen Taschenwörterbuches war. — Irgendwo hatten sie Wein aufgetrieben und getrunken, wie man Bier trinkt. Die Folgen blieben nicht aus, und als findige Gesellen belgische Bauernkleider anzogen und kühne Tänze aufführten, erreichte die Ausgelassenheit solche Heftigkeit, daß selbst die nunmehr fortzusetzende Fahrt ihr kaum Zwang auferlegen konnte und das halbe Bataillon singend und tollend hoch oben auf den Transportwagen saß. —

Da wieder langes Halten in Braine le Comte2. Schon ist's Nachmittag, und eben fährt ein Jägerbataillon an uns vorüber; Württemberger sind's, biedere Schwaben, und laut hallt der gegenseitige Gruß. Auf einmal kommt wie ein Blitz aus heiterm Himmel der Befehl: „Aussteigen, fertigmachen zum Abmarsch!" — Gerüchte schwirren durch unsere Reihem es geht gegen Engländer, die von der Marne abgesprengt sind oder von Antwerpen. — Und tatsächlich: nur 6 Uhr abends stand unser ganzes Bataillon zum Abrücken fertig. „Gewehr über! — Ohne Tritt — marsch! — Marschordnung!" Mit festem Schritt bogen wir vom Bahnhof in die Stadt ein, und feierlich erklang unser Sang: O Deutschland hoch in Ehren, du heiliges Land der Treu. — Vorbei an dem deutschen Landsturm, vorbei an den Einwohnern, die in Massen am Straßenbordstein sich drängten. Wie muß denen unser Schritt dröhnend ins Ohr gefallen sein, und nicht einer von all denen hat uns ins Auge geschaut, die wir kühn und stolz dreinblickten, wie eben Art des Siegers ist. Und hinaus aus der Stadt ins weite Land, ins feindliche Land. Schwer sank der Abend, und kalte Nebel stiegen ringsum auf. Schwer und schwerer wurde unser Marsch; Stunde um Stunde rann dahin, ohne daß wir unser Quartier gefunden hatten. Stockfinstere Nacht, und der schwere, zu schwergepackte Affe! Wohl nie vorher hatten wir so geschwitzt wie auf diesem Nachtmarsch. Und dann die fortwährenden Stockungen, wobei jedesmal die Nase des Hintermanns auf des Vorangehenden Tornister und Kochgeschirr aufrannte! Wie manch einer hat da nicht gerade sanft geredet und seine Wut über kleinliche Dinge gar am Kameraden ausgelassen. So manches Dorf ward durchzogen, doch nirgends ein Mensch gesehen; nur hier und da ein schwacher Lichtschein hinter tief- und dichtgeschlossenen Fenstern und auf dem Hofe ein wütend nach uns bellender Köter, gleich als ob er wüßte, was Zweck unseres Hierseins wäre.


  1. Es könnte sich um den Bahnhof in Ecausinnes-d'Enghien, südöstlich von Braine le Comte, südwestlich Brüssel handeln.
  2. Brain-le-Comte, belgische Stadt südwestlich von Brüssel.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Luxemburg · Belgien · Gouvy · Antwerpen · Libramont · Maas · Namur · Charleroi · Dünkirchen · Dunkerque
Sachbegriffe: Landsturm · Zeitungen · Bahnwärterhäuser · Landwehr · Gardekorps · Munitionslager · Montanreviere · Hüttenwerke · Arbeitslose · Wallonen · Jägerbataillone
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 10: Eisenbahnfahrt nach Brain-le-Comte“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-10> (aufgerufen am 29.03.2024)