Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919

Abschnitt 12: Versorgungsprobleme, Einquartierungen von Soldaten

[184-185]

Die Lage des Reiches, Englands Herrschaft zur See, die dadurch unterbundene Zufuhr von Material und Nahrungsmitteln, die Notwendigkeit der Versorgung des riesigen Heeres und der gesamten Bevölkerung bei geschlossenen Grenzen sowie der Mangel an Arbeitskräften brachte es mit sich, daß sich die Ernährungsverhältnisse beim Heer und besonders in der Heimat recht schwierig gestalteten. Die Kohlrübenwinter sind in trüber Erinnerung. Die Hausfrauen suchten daraus zu machen, was möglich war. „Die hungrigen Kinder schrien nach Brot", aber auch die Erwachsenen, denn man bekam viel zu wenig davon. Fleisch gab es nicht mehr, und wenn die Hausfrau von Zeit zu Zeit nicht ganz ohne Erfolg nach Pferdefleisch anstehen durfte, galt das schon als Glücksfall. Milch und Butter wurden unbekannte Begriffe. Im Garten wurde der kleinste Winkel zum Anbau von allen möglichen Gewächsen ausgenützt, an die man sonst nicht gedacht. Aus Mohnsamen gewann man Öl und aus Rüben Syrup, d. h. den fehlenden Zucker. Stets fehlte es auch dabei an Arbeitskräften, und man musste alles selbst zu bewältigen suchen.

Wie wir die uns als Einquartierung zugewiesenen Soldaten beköstigen sollten, war uns rätselhaft. Sie schienen der Meinung zu sein, daß wir nur nichts herausrücken wollten: doch würden wir gern mehr gegeben haben, wenn wir es selbst gehabt hätten. Eigentlich brauchten sie uns nur anzusehen, um im Bilde zu sein. Die wohltuende Körperfülle war längst geschwunden, das Aussehen war hager und mager, und die Kleider schlotterten am Leibe. Das ist keineswegs übertrieben, und wer es mitgemacht hat. weiß es ohnedies. Allerdings haben wir weder gehamstert noch uns auf Schleichwegen Nahrungsmittel zu verschaffen gesucht, wozu uns das Geschick fehlte, wenn man das Pflichtbewusstsein in der Notlage nicht gelten lassen will. Nicht wenige Leute, besonders ältere wie auch Kinder, sind daran zugrunde gegangen. Unterernährung nannte man das mit einem gewählteren Ausdruck, weil man Hunger nicht sagen wollte.

Glücklicherweise blieben die einquartierten Soldaten gewöhnlich nur kürzere Zeit, brachten wohl auch selbst etwas für sich mit oder wurden von außen verpflegt, sonst hätten wir es nicht schaffen können, was besonders auch für die Offiziere gilt. Sie pflegten ebenfalls nur kurzen, zuweilen allerdings auch längeren Aufenthalt zu nehmen. [S. 185]

Manchmal hatten wir zwei oder drei Autos im Hofe stehen, denn sie kamen zu Wagen, und es schien sich herumgesprochen zu haben, daß hier eine geeignete Unterkunftsstelle dafür wäre. Wenn sie am späten Abend eintrafen, waren wir nicht sehr erfreut. Natürlich gehörte das nötige Personal dazu, und im Hause pflegte es dann recht lebhaft zu werden, auch tagsüber. Ordonnanzen kamen und gingen.

Unseren Genüssen, Beefsteaks aus Hefe und Würstchen aus Pferdefleisch, die wir gut zu finden gelernt hatten und nicht einmal gern hergaben, brachten die Herren kein großes Verständnis entgegen. Dagegen durchzogen höchst angenehme, uns völlig ungewohnte Düfte das Haus, denn man kochte und briet in der Küche offenbar nichts Schlechtes. Ein Glas Wein fehlte auch nicht dabei, wie ich hörte. Was mich betrifft, so hatte ich meine letzten paar Flaschen bei ähnlicher Gelegenheit geopfert. Jedenfalls freuten wir uns darüber, daß es wenigstens dem Heere noch erträglich ging. Welch großes Glück, daß es nicht im eigenen, sondern in Feindesland stand und überdies dort noch manche Hilfsquelle fand!


Personen: Korschelt, Eugen
Orte: England · Marburg
Sachbegriffe: Blockadepolitik · Ernährungslage · Versorgungsprobleme · Fleischversorgung · Pferdefleisch · Butter · Zucker · Öl · Einquartierungen · Hungertote · Unterernährung · Offiziere · Ersatzprodukte
Empfohlene Zitierweise: „Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919, Abschnitt 4: Versorgungsprobleme, Einquartierungen von Soldaten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/63-12> (aufgerufen am 01.05.2024)