Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

Inhalt

↑ Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919

Abschnitt 15: Inflation, Vermietung an Studenten, Einquartierungen

◀ [188-189]

Das Elend wuchs unermeßlich, als die Preise zu steigen anfingen, aus nicht ersichtlichen Gründen die Steigerung sich immer weiter fortsetzte, eine unheimliche Höhe erreichte und schließlich zu der wahnsinnigen Inflation führte, bei der anfangs mit Tausenden, dann mit Hunderttausenden, Millionen, Milliarden und Billionen gerechnet wurde, wo eine Mark gemeint war. Die Folge mußte notwendigerweise die Vernichtung aller Werte sein. So rapid war die Steigerung, daß man für die Milliarden, die man an einem Tage erhielt, schon am nächsten Tage nichts mehr kaufen konnte. Alles in Jahrzehnten Ersparte war verloren, und wer noch die Kraft dazu in sich fühlte, durfte von neuem anfangen.

Ein gewisser, freilich geringer Trost wurde darin gefunden, daß es ungefähr allen anständigen Leuten so ging. Nicht wenige, von den Entbehrungen der Kriegszeit geschwächt und zermürbt, vermochten die Widerstandskraft nicht mehr aufzubringen und wählten einen anderen Weg, um der körperlichen und seelischen Not zu entgehen. So sah es nach dem Kriege und Anfang der zwanziger Jahre in Deutschland aus: doch zogen sich diese schlimmen Zustände noch lange hin. Dem verelendeten Volke sollten nach den im Diktat von Versailles getroffenen Bestimmungen noch auf mehr als vier Jahrzehnte Milliardentribute von unerhörter Höhe erpreßt werden. Vom Beginn des Krieges hat sich eine Zeile aus den „Alldeutschen Blättern"¹ in meiner Erinnerung festgeheftet: „Wir müssen den Krieg gewinnen, sonst werden wir ein Sklavenvolk." Dagegen schallte es aus England herüber: „Wenn wir den Krieg gewinnen, ist jeder Engländer dreimal so reich wie vorher!" Das hat nun freilich nicht gestimmt: aber der andere Ausdruck traf das Richtige, nur hat man es in deutscher Verblendung nicht einsehen wollen. [S. 189]

Zu dem bestehenden trostlosen Zustand kamen viele öffentliche und persönliche Schwierigkeiten hinzu und wurden vielen unerträglich. Wie erwähnt, nahmen wir mit Kriegsende einige Studenten bei uns auf. Sie hatten es in jeder Beziehung dringend nötig, um einigermaßen durchzukommen, fühlten sich sehr wohl und waren glücklich, ungestört arbeiten zu können. Das ging einige Semester: dann wurde herausgefunden, daß in diese Zimmer Zwangsmieter gehörten, obwohl alle dafür nötigen Nebenräume fehlten. Deshalb und aus manchen anderen Gründen erhobener Einspruch nützte nicht das geringste. Die Studenten wurden entfernt und mußten sehen, wie sie mit sich fertig wurden.

Von da an lebten wir in dem dafür völlig ungeeigneten Haus im engen Zusammenhang durch längere Zeit erst mit einer, dann mit einer zweiten Familie, glücklicherweise sehr ordentlichen Leuten, mit denen wir gut auskamen, bis die Einrichtung mit den sich bessernden Zeitverhältnissen von selbst aufhörte. Sie konnte zur Qual werden, wenn das Zusammenleben gar nicht klappen wollte, wie es bei einigen befreundeten Familien der Fall war, vielleicht infolge beiderseitigen Unvermögens, sich einigermaßen miteinander einzurichten. Als es fast wider Erwarten einigen besonnenen Männern gelang, die Währung von neuem zu befestigen und einen stabilen Wert der Reichsmark herzustellen, ging ein Aufatmen durch das bis zum äußersten gequälte Volk.

1. Die Alldeutschen Blätter erschienen 1894-1939 als Mitteilungen des Alldeutschen Verbandes, eines der stärksten nationalistischen und militaristischen Verbände des Kaiserreichs. ↑