Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919

Abschnitt 13: Waffenstillstand und unsichere Lage in Marburg

[185-187]

Der Krieg zog sich immer länger hin. Es war kein Ende abzusehen, und die Kräfte mußten naturgemäß nachlassen. Die Vormärsche und Eroberungen in Rußland, Rumänien und Italien, zuletzt noch der große Ansturm im Frühjahr 1918 im Westen belebten die Hoffnungen immer wieder von neuem, bis diese durch die zunehmende Zwietracht im Innern und die verfehlten Maßnahmen der Regierung mehr und mehr sank. Die trostlosen Lage des Waffenstillstandes kamen heran. Man konnte sich gar nicht vorstellen, daß es nun wirklich aus sein und was eigentlich Nachfolgen sollte. Ludendorffs Entlassung, Sturz der Regierung, Flucht des Kaisers ins Ausland, lauter unmöglich erscheinende, unfaßbare Nachrichten. Umsturz im Lande!

Ein schwaches Bild davon bot sich hier in der kleinen Stadt. Keiner wußte recht, was werden sollte. Es bildete sich ein Arbeiter- und Soldatenrat, er besetzte sogar das Rathaus und zog die rote Fahne auf. Also herrschte die rote Revolution in Marburg wie im Reich. Das „Gebot der Stunde" verlangte einen „Aufruf in der Zeit schwerer Erschütterung des gesamten Volkslebens", der dadurch begegnet werden sollte. In der Tat machte die öffentliche Erklärung einen ziemlich friedlichen Eindruck, stellte zwar die Gewaltergreifung fest, betonte aber in der Hauptsache und wiederholt das Bewahren der [S. 186] Ordnung, Ruhe und Disziplin. Also Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, lautete die ernste Verordnung wie auch sonst bei derartigen Gelegenheiten.

Meines Erinnerns geschah das alles erst am Montag, den 11. November. In Berlin nahm die Revolution meines Wissens am 9. November ihren Anfang. Den Eindruck des Erschütternden hatte man gar nicht, nur war man unendlich traurig über die Vorgänge in dem von feindlicher Übermacht umgebenen, gequälten Land. Viel wußte man damals noch nicht. Deshalb suchte ich am Sonntag, den 10. November, etwas Näheres zu erfahren, ging durch die Stadt bis zum Marktplatz und auf anderen Straßen nach dem Bahnhof. Alles war ruhig, beinahe öde, der Aufruhr schien die Sonntagsruhe nicht stören zu wollen. Der Eintritt in die Bahnhofshalle wurde mir durch die am Portal ausgestellten Soldaten der Revolution barsch verweigert. Was war aus unseren ebenso tapferen wie biederen Jägern in der kurzen Zeit geworden! Salopp, unordentlich angezogen, schief aufgesetzte, zerknitterte Mütze, offener Mantel, das Gewehr mit der Mündung nach unten am Riemen über die Schulter hängend. Das sollte wohl ein äußeres Zeichen des Umsturzes sein, vielleicht waren sie auch etwas alkoholisiert. Nach der im Aufruf verkündeten Ordnung und Disziplin sahen sie nicht gerade aus. Die war jedenfalls rasch verschwunden und hieß nun Kadavergehorsam, der nicht mehr gelten sollte.

Bei näherer Verhandlung brach die alte Umgänglichkeit bald wieder durch. Meine Erklärung, ich müsse mir unbedingt eine Zeitung kaufen, die ich am Sonntag anderswo nicht bekäme, erschien ein-leuchtend, und ich wurde daraufhin auch ohne den vorher geforderten Ausweis eingelassen. Übrigens lohnte es gar nicht, denn man sah und hörte in der leeren Halle nichts Wissenswertes. Der Verkehr schien ziemlich stillzuliegen. Unter dem Eindruck der schlimmen Nachrichten blieb wohl jeder nach Möglichkeit da, wohin er gehörte. Es war, als ob durch den Eintritt des Unfaßbaren eine Art Lähmung die Menschen ergriffen hätte. So erklärt sich wohl auch der rasche, beinahe widerstandslose Erfolg des Umsturzes. Ein etwas später bei mir einquartierter Fliegerhauptmann, der Führer einer aus dem Felde kommenden, hier gelandeten Flugzeugstaffel, hatte in Darmstadt zu tun, wohin er mit seinem Wagen unbehelligt gelangte. Auf der Rückkehr durch Frankfurt schwang sich bei langsamer Fahrt des [S. 187] Wagens ein Matrose auf das Trittbrett, nach Ausweis ein Beauftragter der provisorischen Regierung. Nach Lage der Dinge blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung, zur Kommandantur zu fahren, Folge zu leisten. An der Weiterfahrt wurde der Hauptmann nicht gehindert und bekam den dafür gültigen Ausweis.


Personen: Korschelt, Eugen · Ludendorff, Erich von · Wilhelm II., Deutscher Kaiser
Orte: Russland · Rumänien · Italien · Marburg · Berlin · Darmstadt · Frankfurt
Sachbegriffe: Waffenstillstand · Arbeiter- und Soldatenräte · Rote Fahnen · Novemberrevolution · Matrosen
Empfohlene Zitierweise: „Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919, Abschnitt 13: Waffenstillstand und unsichere Lage in Marburg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/63-13> (aufgerufen am 16.04.2024)