Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919

Abschnitt 11: Reise in das westliche Kriegsgebiet, August 1915

[182-184]

Das deutsche Volk hatte noch viel durchzumachen, die Inflation nicht zu vergessen; aber ehe ich darauf eingehe, soweit es im Rahmen dieses Buches überhaupt möglich ist, habe ich noch einiges nachzutragen. Wie erwähnt, bekleidete ich im ersten Kriegsjahr das Rektoramt. Von Anfang an war ich bestrebt, alle Geselligkeit einzuschränken, was viele als höchst unangebracht und lästig empfanden. Man sprach von Kriegspsychose und Kriegshysterie; doch machte mir das nichts aus, und ich bin der Meinung, es wäre besser gewesen, wenn jeder Deutsche, gleichviel, ob hoch oder niedrig stehend, dauernd an den Krieg und daran gedacht hätte, alles und jedes zu seinem erfolgreichen Ausgang auch von sich aus beizutragen. Dann wäre es bestimmt nicht zu dem für unser Volk so überaus traurigen Ausgang gekommen.

Infolge einer von dem Rektor verlangten Auskunft ergab sich ein Schriftwechsel mit einem A.-O.-K. und in Verbindung damit eine mir begreiflicherweise sehr erwünschte Besprechung an Ort und Stelle im August 1915. Ganz wider Erwarten erhielt ich dadurch noch einmal die Möglichkeit, ins Kriegsgebiet und sogar an die Front zu gelangen, für mich natürlich ein unschätzbarer, tiefer Eindruck. Die Kriegswirkungen auf Orte zu sehen, von denen am Anfang des Krieges soviel die Rede gewesen war, wie Löwen, Namur, Antwerpen, Lille, Valenciennes, St. Quentin, Laon und eine Reihe anderer, sowie das Leben in diesem Gebiet zu beobachten, mußte natürlich von größtem Interesse sein. Wie es in Ruhestellung, in der Nähe der Front [S. 183] sowie in den Schützengräben aussah, wußte ich nun aus eigener Anschauung, kannte die Wirkung der Minenwerfer, schweres Geschützfeuer usf. Das war in der Gegend von Berieux und Berry au Bac. Auch Fliegerkämpfe hoch in der Luft hatte ich zu beobachten Gelegenheit. An besonders gefährdete Stellen wird man mich kaum geführt haben. Die Gegenden in Flandern mit den berühmten Namen der frühen und späteren Kämpfe mußten an und für sich einen tiefen Eindruck machen. Man sah dort Abteilungen von Seesoldaten marschieren und Marineoffiziere zu Pferde, ein etwas eigentümlicher Anblick.

Ostende fand ich gegen früher stark verändert. Das hochnoble Modebad von damals, als ich meine zoologischen Studien dort ausführte, bot ein wesentlich anderes Bild, abgesehen von den militäri- schen Zurüstungen der Küstenverteidigung. An Stelle der eleganten Modedamen aus aller Welt mit ihren Verehrern tummelten sich jetzt unzählige deutsche Soldaten am Strand, die man bataillonsweise hierhergeführt hatte. Sie waren äußerst vergnügt, und man sah ihnen an, wie wohl ihnen die herrliche Erholung nach schwersten Anstrengungen tat. Auf die Badekur waren sie nicht vorbereitet und hatten nicht viel an. Die feindlichen Flieger in der Luft waren sie wohl gewöhnt und schienen nicht weiter von ihnen beeindruckt zu werden, zumal sich die unsrigen jenen entgegenstellten. Mich geleitete man freundlicherweise in das Offiziersbad. Die bereits getroffene Verabredung, nach Zeebrügge zu fahren, wurde leider durch den gerade zu jener Zeit stattfindendenden schweren Angriff der Engländer vereitelt, die den Stützpunkt der U-Boote immer wieder zu nehmen versuchten.

Die Reise dauerte zwei Wochen. Welche Fülle von Eindrücken ich gewann und wie glücklich ich darüber war, brauche ich kaum auszusprechen. Ohne das Rektoramt wäre ich nicht dazu gekommen und mußte ihm also dankbar sein: auch nicht nach Friedrichsruh, wohin Die im Frühjahr zu Beratungen in Hamburg versammelten Rektoren der deutschen Hochschulen gemeinsam gingen. Eine Feier von Bimarcks hundertstem Geburtstag konnte es in dieser schweren Zeit des deutschen Volkes natürlich nicht sein, sondern nur eine Gedenkstunde zu Ehren dessen, der das Reich geplant, gegründet und in so herrlicher Weise zur Höhe geführt hatte. Nun war es schwer gefährdet, von einer Welt von Feinden bedrängt und in seinem [S. 184] Bestand bedroht, was er in Stunden trüber Ahnungen des letzten Lebensjahrzehnts befürchtete und vorauszusehen glaubte.


Personen: Korschelt, Eugen
Empfohlene Zitierweise: „Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919, Abschnitt 11: Reise in das westliche Kriegsgebiet, August 1915“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/63-11> (aufgerufen am 18.04.2024)