Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919

Abschnitt 7: Situation der Universität Marburg, Herbst/Winter 1914/15

[178-179]

Zu Hause fand ich eine Anzahl neu einquartierter Soldaten vor. Man näherte sich dem Beginn des Wintersemesters und wußte nicht recht, wie sich alles gestalten würde. Ausdrücklich war die Fortführung aller angezeigten Vorlesungen und Übungen bestimmt. Begreiflicherweise wurde das etwas kümmerlich. Zuhörer waren die wegen irgendwelcher, mehr oder weniger wahrnehmbaren Gebrechen zurückgebliebenen Studenten sowie solche, die aus dem Felde verwundet heimgekehrt und einigermaßen hergestellt waren. Viel Sinn und Neigung schienen diese nach ihren schweren Erlebnissen für die Studien nicht zu haben, was sich verstehen ließ.

Von den weiblichen Studierenden gewann man den Eindruck, daß sie sich nach Lage der Dinge unter den Kommilitonen recht unbehaglich fühlten und sich möglichst zurückhielten. Sollten sie, unbekümmert um den Gang der Ereignisse und die Not des Vaterlandes, weiter studieren, das Studium beenden und sogar Prüfungen ablegen, wenn die Studenten draußen kämpften, schwere Schädigungen erlitten und ihr Leben hingaben. Viele traten als Pflegerinnen ein, doch war das nur ein gewisser Teil. Jedenfalls befanden sie sich im Vorteil gegenüber den Männern, und offenbar empfanden sie dieses Gefühl als drückend; aber auch das hat sich im Laufe der Monate und Jahre gegeben, als sich der Krieg so lange hinzog.

[S. 179] Damit ergaben sich für die Studierenden überhaupt recht eigentümliche, ganz unerwartete Verhältnisse. Manche von ihnen, die ihr Studium schon vor dem Krieg weit gefördert hatten, waren in der Lage, sich für die Prüfung vorzubereiten, sei es, daß sie sich als Kriegsverletzte in fortschreitender Genesung oder sonstwie in Ruhestellung befanden, die ihnen das Ungewöhnliche gestatteten. Man sah, daß sie unter den erschwerendsten Bedingungen sich bemüht hatten, das Fehlende zu ergänzen, und konnte seine Freude daran haben, mit welchem ruhigen Ernst sie ihre Kenntnisse vorbrachten, auch wenn diese nicht gerade auf allen Gebieten den wünschenswerten Anforderungen entsprachen.

Zur Vermeidung schwerer wirtschaftlicher Schädigungen und um einen gewissen Abschluß der bisherigen Studien herbeizuführen, waren übrigens gleich zu Kriegsbeginn Prüfungen abgehalten worden, zu denen sich wohl in der Hauptsache nur diejenigen meldeten, die sich eine gewisse Bereitschaft der bisher erworbenen Kenntnisse zutrauten. Zur Vorbereitung war weder Zeit noch Stimmung vorhanden. Neben einigen üblen machte man bessere und erfreulicherweise sogar recht gute Erfahrungen, so daß die jungen Leute ohne diese Bedrückung ins Feld entlassen werden konnten. Zumeist kamen dabei die vor dem Physikum stehenden Mediziner in Betracht, doch gab es auch eine Anzahl Naturwissenschaften Studierender, die ihre Arbeiten so weit gefördert hatten, um in die Prüfung einzutreten. Trotz der größeren Verantwortung und erheblicheren Schwierigkeiten bei diesen Staatsprüfungen waren auch hierbei günstige Ergebnisse zu verzeichnen, zumal die betreffenden Kandidaten schon älter waren und ein längeres Studium hinter sich hatten.


Personen: Korschelt, Eugen
Orte: Marburg
Sachbegriffe: Einquartierungen · Universität Marburg · Studenten · Studentinnen · Krankenpflegerinnen · Verwundete
Empfohlene Zitierweise: „Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919, Abschnitt 7: Situation der Universität Marburg, Herbst/Winter 1914/15“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/63-7> (aufgerufen am 25.04.2024)