Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 18: Kämpfe und Kriegsgräuel in Roeselare

[314-315]
Wir stürmen in ein Haus, schon brennt die Treppe: oben lautes Gestöhn. Ein schwerverwundeter Kamerad liegt auf der Treppe, hilflos, dem Verbrennungstode preisgegeben. Hinunter ihn schaffen und auf die Straße an den Rinnstein legen. ... Im Stall eine schreiende Ziege angekettet, und schon haben die Flammen ihr das Hinterteil verbrannt. Auch die Kreatur ist eine Kugel wert. ... Auf den Straßen Freund und Feind durcheinander: Lärm und Gebrüll, Gestöhn und Aufschrei, blitzende, blutige Bajonette, wild um sich schlagende, herrenlose Pferde, dazwischen fliehende Bewohner, Frauen in fliegendem Haar, kreischende Kinder, klatschende Kugeln auf dem Straßenpflaster und Feuer und Glut und Rauch und Dunst und Blut. ... Ein Haus, die Tür verriegelt: Beil her! mit wuchtigen Schlägen wird sie eingeschlagen, Kolbenstöße brechen sie zusammen, ein düsterer, enger Gang öffnet sich der eindringenden Korporalschaft: da, ein Flintenlauf reckt sich hoch und hinter dem Schützen ein zweiter! Ein Stoß, und mit wildem Schrei fällt der erste vom Bajonett des Korporals getroffen in den düstern Gang zurück, daß er seinen Genossen taumeln macht. ... Ein Sprung auf den zweiten, und schon kracht ein Schuß aus unsern Reihen und getroffen stürzt auch jener, noch im Fallen triff zerschmetternd ihn des Unteroffiziers Kolbenschlag. Über sie weg stürmen wir weiter ins Hausinnere. Doch schon sind die andern zum Hintertor hinaus, eben springt der letzte fort; ein Schuß, er bricht zusammen. So Haus für Haus, und tief schon ist es Nacht und Abend, den grausig der lohende, flammende Brand hellt, himmelhoch sprühen Funken empor, uns hier und da den Anzug sengend.... Klirrend springen Fensterscheiben und decken den Boden, den knirschend unser Schritt trifft. ...

Gegen zehn Uhr haben wir uns bis zum Marktplatz durchgearbeitet. Hier trifft sich nachgerade [S. 315] unsere ganze Division, Roulers ist unser! Der Feind ist geworfen und wird verfolgt. ...

So standen wir auf dem Marktplatz, noch zitternd und triefendnaß vor Erregung, rings um uns die brennende, dröhnende Stadt. ... So standen wir da, müde zum Umfallen und hungrig und durstig. Endlich, schon zog die Mitternacht herauf, bekamen wir Quartier in der brennenden Stadt! Unser Zug lag zunächst in einem Estaminet auf den kalten Fliesen des Bodens und schlief nach einigen Minuten wie tot. Plötzlich jedoch wurden nur von der Wache geweckt: das Haus fange an zu brennen! Also raus! und ein neues Quartier gesucht! Auf den Straßen überall Soldaten, die Trupps gefangener Zivilbevölkerung einbrachten; andere, die an Löscharbeiten teilnahmen. Bald fanden wir eine andere Stätte, wieder ein Café, wie wir solche bei unserm heutigen Sturm mehrere mit ihrer äußerst zweifelhaften Inneneinrichtung gesehen hatten, krank und schmutzig und unsittlich, armes Belgien! Dieses Café wurde von zwei Schwestern geleitet, die ihren Haupterwerb sicher aus anderm zogen denn aus dem Ausschank. Sie empfingen uns frech-liebenswürdig und traten uns bereitwillig ihre molligen Schlafräume ab. Machten uns noch einen guten Kaffee usw. ...

Ihr Bruder war Lehrer, sprach englisch, französisch und deutsch und war ein recht verständiger Kopf. Von dem erfuhr ich folgendes: Roulers (flämisch Rousselaere) ist eine Stadt von Mitte zwanzigtausend Einwohnern. Schon vor 14 Tagen seien deutsche Truppen durch die Stadt gezogen gegen Ostende und zwar ganz unbehelligt. Sie hätten eine kleine Wacht hier gelassen, die aber sei vor einigen Tagen durch englische Dragoner vertrieben worden. Engländer und Franzosen, weniger Belgier, hätten nun von der Stadt Besitz ergriffen und wie schon vorher die ganze Zivilbevölkerung zum Franktireurkampf aufgehetzt, unterstützt durch den Bürgermeister und den ersten Pfarrer. (Ich habe die beiden als Gefangene einbringen sehen.) Und die Verteidigung wäre ganz systematisch angeordnet und verstärkt worden durch viele aktive Soldaten in Zivilkleidern. Mein Quartierwirt redete viel von der Nutzlosigkeit solcher Unternehmungen, vielleicht, um uns Kriegsknechten damit zu gefallen, vielleicht war's ihm auch ehrlich gemeint; war er doch selbst um seinen Vater in großer Sorge, der heute morgen über Land gegangen und noch nicht zurück war.

Was allerdings die Einwohnerschaft für eine Bande war, haben die bald nach unserm Abzug einrückenden Besatzungstruppen erfahren müssen, deren zehn oder zwölf eines Morgens mit durchschnittenen Kehlen in ihrem Quartier aufgefunden wurden. - Roulers wurde zum Stützpunkt aller militärischen Operationen (und ist es heute noch), die sich rechts von Ypern zugetragen und entwickelt haben.


Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Roeselare · Oostende · Ypern
Sachbegriffe: Brände · Zerstörungen · Häuserkampf · Bajonette · Pferde · Kinder · Nahkampf · Unteroffiziere · Estaminéts · Cafés · Engländer · Dragoner · Franzosen · Morde · Kriegsgräuel · Franktireurs · Straßenkampf
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 18: Kämpfe und Kriegsgräuel in Roeselare“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-18> (aufgerufen am 30.04.2024)