Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 6: II. Nachtlager in Pustomyty und Angriff

[36-43] Pustomyty, 24. Juni 1916.
Aus tausend Sternen schaut die Unendlichkeit hernieder auf die nachtdunkle Erde. Mitternacht. In ihrem schirmenden Schoß rasten wir müde am Fuße des Kreuzes westlich von Pustomyty, nachdem wir ohne Verluste die lange Mulde durchschritten haben, in deren Windungen die anderen Bataillone sich kämpfend und blutend vorgearbeitet haben, an deren Hängen das Gewehrfeuer und das eisenschmetternde Bersten der Granaten und Schrapnelle ein vielfältiges, rauschendes, gurgelndes Echo fanden . . .[…]

[S. 36] Wir müssen weiter an den Ostrand des Dorfes. Durch Büsche kriechend, über rostigen Draht und moosgrüne Holzzäune kletternd, schleppen und heben wir die Maschinengewehre, keuchen wir unter der Last der schweren Munition vorwärts.
Mit feinem Singen ziehen hoch die Kugeln über uns hinweg oder schwirren hart brummend in der Nähe vorüber.
Ein Geschoß zerschlägt knackend den Stock in meiner Hand. In derselben Sekunde brennt ein Schmerz an meinem linken Oberschenkel. Ich springe vom Zaun herunter, über den ich gerade klettern wollte; ich glaube verwundet zu sein und taste mit der Hand nach der Stelle. Aber ich fühle kein Blut und keine Wunde. Hinter einer Hecke untersuche ich beim abgeblendeten Schein einer Taschenlaterne das Bein. Ein großer Winkelriß in der Hose. Sonst nichts. Zwischen Hose und Unterhose ist ein Querschläger hindurchgesaust. Die flammend rote Haut brennt und schmerzt.
In der elenden Strohhütte schläft der Major auf einem Backtrog. Auf dem lehmgestampften Boden kauert der wachende Adjutant.

Ich liege mit meinen Schützen davor unter einem Birnbaum auf zertretenem Gras. Die Maschinengewehre stehen zwischen uns.
Ein kalter Reif fällt in der Nacht. Die Nässe kriecht durch den Mantel hindurch auf die fröstelnde Haut. In schweren Träumen wälzt der Kopf auf dem Sturmgepäck sich hin und her. Ich sehe im Halbschlaf glühende, dampfende Lava herankriechen und vom Hang ein eisiges Wasser herunterfließen — über mir werden [S. 37] die Ströme zum brausenden Gischt sich vereinigen . . . Aber nur liegen und ruhen — ruhen und untergehen! So müde — so müde.

Ich öffne langsam die Augen und sehe durch die schwarzen Zweige den grauen Himmel. Der Morgen dämmert.
Und ich höre: der brausende Gischt, der im Traum über mir zusammenschlug, ist ein wildes Gewehrfeuer, das mit tosendem Schall durch die Täler brandet.
Ich wecke Leute und Kompagnieführer. Wir müssen uns bereit halten. Soviel ist sicher: der Russe greift an. Im Dorf vermutet er die Reserven, denn er legt schweres Schrapnell- und Granatfeuer auf jedes einzelne Haus.
[…]
Senkrecht auf mich zu läuft am jenseitigen Hang ein Graben ins Tal hinunter. In ihn flüchten die Ueberlebenden. Sie können sich nicht mehr wehren, und doch ergeben sie sich nicht! Den Rückweg dürfen sie nicht finden. Warum erhebt ihr die Hände nicht und kommt herüber zu uns? Ich würde euch so gern das Leben schenken! So aber muß ich euch niederhalten. Unsere Grenadiere haben keine Patronen, außer dem [S. 42] blanken Seitengewehr und dem Kolben keine Waffe! Ich richte auf das obere Ende des Grabens ein und jage den Tod in die Kette bebender Menschenleiber.

Eine furchtbare Blutarbeit, die getan sein muß! Ich beiße auf die Zähne und verrichte sie.
Wenn du nicht stirbst, mein russischer Kamerad, so muß ich sterben oder mein Bruder oder mein Freund. Du oder ich! Eine sieghaft wilde Genugtuung, eine rünstige Freude, ein Blutrausch, wie ihn nur das hungergepeinigte Raubtier kennt, ergreift in den Augenblicken wogenden Kampfes den Menschen, der den andern in den Tod schickt. Nur später, wenn in der Einsamkeit, in stillen Stunden oder in nächtlichen Träumen der lange Zug der Toten aufersteht, dann kommt das Grauen über die Seele des Menschen, der da getötet hat.
Die Ziele der Artillerie haben sich durch den Angriff verschoben; das Feuer läßt nach. Diese Ruhe benutzt unsere Infanterie, um in Gurten und Pappkästen Munition nach vorn zu schaffen.Auch ich gehe vor, um meine Maschinengewehre in die Schützenlinien einzuschieben.Zu hunderten liegen die Leichen gefallener Russen umher. Die vordersten haben Stirn- und Brustschüsse; den nächsten aber schon, welche die Flucht ergreifen wollten, haben die Kugeln sich in Hinterkopf und Rücken gebohrt. Durch den Graben, den einst zu Tal fließendes Regenwasser sich gebahnt haben mag, rinnt ein dünnes Blutbächlein unter den Leibern der Toten, die da stumm in langer, langer Reihe liegen, den durchschossenen Kopf auf den Stiefeln des Vordermanns. Ein Russe begegnet uns, der mit einer Hand in der Luft tastet, in der andern einige Kochgeschirre trägt, [S. 43] in denen er in Pustomyty Wasser holen will für die Schwerverwundeten, die unter Aufbietung der letzten Kraft sich nach einer schützenden, seitlichen Schlucht geschleppt haben. Etwa zwanzig wimmernde, stöhnende Menschen, deren Gesicht und Hände und zerfetzte Kleider eine rotbraune Kruste geronnenen Blutes überzieht, liegen hier dicht zusammen. Einige mögen schon tot sein. Der treue Wasserholer aber, der einzige, der sich noch auf den Füßen halten kann, schwankt zum Brunnen. Ein Geschoß hat seine Wange der Breite nach ausgerissen und eine unförmige Geschwulst verdeckt das Auge. Durch die blutige, klaffende Wunde aber schimmern die weißen Backenzähne.

Wilhelm, mein Freund, du bist schauerlich gerächt!
Als ich über die Toten steige, sehe ich entsetzt unter den russischen einige deutsche Leichen. Ein stechender Schmerz brennt in der Brust. Bin ich es, der euch getötet hat? Kameraden, die ihr durch mich vielleicht habt sterben müssen, wenn ihr aus der Höhe herniederschauen könnt in meine Seele, so wißt ihr, wie ich um euch leide! Ihr Treuesten und Tapfersten, ihr habt nicht weichen wollen vor dem stürmenden Feind, und ich habe euch nicht erblicken können in dem braunen Menschenmorast! —[…]


Persons: Egly, Wilhelm
Places: Friedberg · Pustomyty
Keywords: Artillerie · Bataillone · Blut · Gefallene · Kämpfe · Kameradschaft · Munition · Schlachtfelder · Schützen · Tagebücher · Träume · Verwundungen
Recommended Citation: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 6: II. Nachtlager in Pustomyty und Angriff“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/65-6> (aufgerufen am 24.04.2024)